Seit 2019 sind sie im frei Internet zugänglich: die Nuntiatur-Berichte Pacelli's nach Rom der Jahre 1923 und 1924 (EdiPac). Sucht man in ihnen mit dem Suchwort "Ludendorff", wird erst deutlich, daß Erich Ludendorff in diesen eine nicht geringe Rolle spielte, und daß Erich Ludendorff von Seiten des Nuntius Pacelli tatsächlich als der Hauptgegner der katholischen Kirche im damaligen Bayern und im damaligen Deutschland wahrgenommen worden ist. Und zwar schon vor dem Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923.
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Abb. 1: Kirchenfürst Eugenio Pacelli, päpstlicher Gesandter in Deutschland, fotografiert um 1925 (MKGHamburg) |
In der von Mathilde Ludendorff herausgegebenen Schrift über Erich Ludendorffs Blick auf den Nuntius Pacelli (1) erfährt man auch, daß, wie und warum Erich Ludendorff schon im Frühjahr 1923 von Seiten der katholisch-wittelsbacherischen Kräfte in Bayern so heftig bekämpft worden ist. Er war 1923 von München aus zu einem Besuch völkisch-nationaler Kräfte nach Klagenfurt in Kärnten gefahren (Stgr2025). Dort hatte man in ihm, weil er aus München kam, einen Vertreter der wittelsbachischen Politik gesehen und ihm gegenüber offen über Pläne gesprochen, Bayern vom übrigen Reich abzutrennen und mit Österreich zusammen zu schließen. Ludendorff hatte sich in Klagenfurt sofort in entschiedenem Maße gegen solche Pläne ausgesprochen und war dann gleich bei seiner Rückkehr nach München deshalb in der Presse scharf angegriffen worden (1, S. 22):
Nach meiner Rückkehr nach München erhob sich ein Sturm gegen mich in der schwarzen Presse Bayerns, namentlich in der Regensburgs, von wo aus er dann hinüberwehte in die Deutschlands, denn in dem Haß gegen mich, der mit der Furcht gepaart war, ich könne Einfluß in Deutschland gewinnen, waren sich alle Feinde des Deutschen Volkes nach wie vor einig. Jetzt bekam ich zu meinem Staunen zu lesen, ich hätte "mein Gastrecht" in Bayern mißbraucht, indem ich gegen das Haus Wittelsbach und Bayern gehetzt hätte.
Diese Ausführungen machen deutlich, warum wir auch schon in den Nuntiatur-Berichten Pacelli's von München nach Rom vor dem 9. November 1923 Ludendorff eine so große Rolle spielen sehen. Schon vor diesem Putsch hat man - nach diesen Berichten - Adolf Hitler andere Einstellungen gegenüber der katholischen Kirche zugeschrieben als Erich Ludendorff. Man hört durch die Berichte geradezu durch, daß die Erwartung bestanden hat, daß Erich Ludendorff bei der schon am 8. November erwarteten blutigen Niederschlagung dieses Putsches gegebenenfalls ums Leben kommen könnte.
Erich Ludendorff wurde dann aber endgültig zum Haßobjekt der katholischen Kirche und Pacelli's persönlich, als Pacelli während des Hitler-Putsches mit haßerfüllten antikatholischen Demonstranten und Studenten in München zusammen stieß. Und mehr noch als schließlich wenige Monate später Erich Ludendorff seine "große" antiklerikale Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß in München hielt, die eigentlich eine flammende Anklagerede gegen die Umtriebe der katholische Kirche war. Pacelli bringt über Seiten hinweg Auszüge aus dieser Rede, für so wichtig und wesentlich hat er sie gehalten!
Aber der Reihe nach.
Abb. 2: Erich Ludendorff im Gespräch mit Gustav von Kahr, Ministerpräsident, später Generalstaatskommissar von Bayern, sowie treuer Gefolgsmann Pacelli's - von Kahr fand 1923, daß sich Ludendorff zu viel in die bayerische Politik einmischte - Hier auf den Bayerischen Flieger-Gedenktagen vom 19.-22. Mai 1921 (Wiki) in noch deutlich entspannterer Atmosphäre (Links von ihnen Fliegerhauptmann Franz Hailer und rechts der damalige Polizeipräsident Münchens Ernst Pöhner.) |
Die genannten Nuntiaturberichte sind schon seit 2003/06 der Forschung zugänglich. Sie wurden aber von Seiten der Forschung - soweit uns übersehbar - bislang so gut wie gar nicht ausgewertet. Eine beispielsweise 2007 erschienene, neue Biographie über Kronprinz Rupprecht von Bayern, die viele zuvor unbekannte oder wenig bekannte Perspektiven eröffnete, hatte keineswegs jene Eindeutigkeit, die bezüglich vieler ihrer Themen aus den Nuntiatur-Berichten des Pacelli klar hervor geht (s. Stgr2012). Vieles, was erst mit den 2019 online zur Verfügung gestellten Nuntiaturberichtetn klar wird, war in dieser Biographie so deutlich noch nicht sichtbar geworden. Um so wertvoller also, daß die Nuntiaturberichte 2019 online verfügbar gemacht wurden. Nun konnte man sich das offenbar erlauben. Nur noch "Fachleute" würden sich mit dem beschäftigen, was sie enthalten. Und die katholische Kirche hat im Jahr 2019 längst alle Ziele erreicht, um die in den Jahren 1923/24 so heftig gerungen worden ist: Insbesondere die Zerschlagung Preußens, die Bolschewisierung Ostdeutschlands, ja, sogar die Katholisierung und Entdeutschung eines Drittels des Territoriums des Deutschen Reiches von 1914.
Wir lesen zunächst (UniMünster);
Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII. (1939-1958), ist eine der umstrittensten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Bereits als Nuntius in Deutschland von 1917 bis 1929 und dann als Kardinalstaatssekretär bis zu seiner Papstwahl am 2. März 1939 bestimmte er die vatikanische Politik maßgeblich mit. (...) Seit Februar 2003 beziehungsweise September 2006 sind in den vatikanischen Archiven die detaillierten Berichte zugänglich, die Pacelli als Gesandter des Heiligen Stuhls in München und Berlin Tag für Tag, manchmal sogar mehrmals täglich, nach Rom sandte. Seine Nuntiatur entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Drehscheibe vatikanischer Europa- und Weltpolitik. Pacellis Schreiben eröffnen eine neue Perspektive auf die Entwicklung und die Rolle der katholischen Kirche in der Weimarer Republik, aber auch auf Politik und Alltagskultur dieser Jahre in Deutschland und Europa. Sie stellen das wichtigste zusammenhängende Quellenkorpus zum deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit dar.
Wir stoßen auf diese Nunitaturberichte eher zufällig, weil wir in diesen finden, daß Nuntius Pacelli 1927 den Schwiegervater der erst kurz zuvor verheirateten Tochter Mathilde Ludendorffs (1926/27) ehrt. Durch diesen Umstand fällt einmal erneut ein völlig neues Licht auf die Geschichte der Tochter und des ältesten Enkelsohnes von Mathilde Ludendorff (Stgr2025).
Abb. 3: Kronprinz Rupprecht von Bayern, ein treuer Gefolgsmann des Nunitus Pacelli - ihm war es nicht recht, daß Erich Ludendorff 1921 nach München umgezogen war - Hier im Gespräch mit Ludendorff, umgeben von den bayerischen Offizieren Hauptmann Siry, General Hemmer und Oberst Seisser - Auf dem "Trauer-Gedenktag" auf dem Königsplatz in München am 9. Oktober 1921 - An diesem Tag war der Kronprinz Rupprecht Ludendorff gegenüber "entgegenkommender als bisher" |
Aber der genannte Umstand ist ja nur ein kleines Detail in all dem, was an Meinungen und Haltungen des Nuntius Pacelli in seinen Berichten Ludendorff gegenüber formuliert wird.
Nuntius Pacelli's Mitgefühl mit der Entente im Februar 1921
Am 5. Februar 1921 schreibt Pacelli (übersetzt aus dem Italienischen mit Google Übersetzer):
Deutschland befindet sich derzeit in einer äußerst kritischen Phase. Sobald die Beschlüsse der Pariser Konferenz bekannt wurden, erhob sich von allen Seiten ein heftiger, einstimmiger Protest gegen die dem deutschen Volk auferlegten „wahnsinnigen“, „unzulässigen“, „nicht durchführbaren“ und „tyrannischen“ Belastungen. Diese Empörung wurde, wenn auch natürlich in gemäßigterer Form, von Außenminister Simons wiederholt. In der Reichstagssitzung vom 2. Januar erklärte er, Deutschland sei zwar zu Verhandlungen bereit, könne die im Reparationsabkommen vorgesehene Vereinbarung jedoch nicht als mögliche Grundlage für neue Verhandlungen akzeptieren. Am folgenden Tag billigte und bekräftigte der Reichstag die Erklärungen des Ministers. Alle Parteien, mit Ausnahme der Kommunisten – die zudem aus revolutionärer Sicht die Auflagen der Entente ebenfalls ablehnen – erklärten, wie Präsident Löbe anmerkte, daß es unmöglich sei, diese Verpflichtungen zu übernehmen. Daher erklärte sogar der ehemalige Bundeskanzler Müller im Namen der sozialistischen Mehrheitsfraktion, daß keine deutsche Regierung bereit wäre, solche Vorschläge anzunehmen. Deutschland ist sich der Konsequenzen bewußt, denen es sich durch seine Ablehnung aussetzt, und der Sanktionen, die seine Feinde ihm auferlegen könnten; doch nach einer inzwischen berühmten Formel zieht es „ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende“ vor. Selbst die unabhängigen Sozialisten, die mit der Entente und insbesondere mit Frankreich verbündet waren, um die für die soziale Revolution notwendige Abrüstung zu erreichen, nahmen eine ablehnende Haltung gegenüber der Reparationsfrage ein. Seit dem 4. August 1914, so stellt die deutsche Presse mit Genugtuung fest, habe es im deutschen Volk nie wieder eine so vollkommene Einigkeit gegeben.Die Beschlüsse der Pariser Konferenz umfassen bekanntlich zwei Teile: Reparationen und Abrüstung. Was die ersteren betrifft, so bekräftigt jeder in Deutschland die absolute Unmöglichkeit, die darin vorgesehenen enormen und phantastischen Zahlungen zu leisten, lehnt empört die lange Sklaverei ab, der selbst unschuldige zukünftige Generationen unterworfen bleiben würden, und prangert den wirtschaftlichen Ruin und die „Strangulation“ an, die diese Klauseln mit sich bringen würden. Was auch immer man von dieser angeblichen „Unmöglichkeit“ (über die es noch immer schwierig sein dürfte, ein sicheres Urteil zu fällen) halten mag.
Man halte fest: Pacelli spricht von "angeblicher Unmöglichkeit" und stellt sich damit in dieser Frage innerlich ziemlich eindeutig auf die Seite der Entente-Mächte und nicht auf die Seite des gesamten deutschen Volkes.
Im weiteren erklärt er die Reparationsforderungen sogar für "verständlich", nicht jedoch die Abrüstungsforderungen:
Trotz der Forderungen der Interalliierten Konferenz, die die französische Kammer als unzureichendes Minimum kritisierte, ist es dennoch verständlich, daß die Ententemächte, insbesondere diejenigen mit besonders schwierigen öffentlichen Finanzen, von den Besiegten Reparationen fordern, die, insbesondere in Frankreich, zum Wiederaufbau der vom Krieg verwüsteten Provinzen verwendet werden müssen. Weniger verständlich sind dagegen die Forderungen nach Abrüstung im Hinblick auf die Organisationen, die (angesichts der unbestreitbaren Unzulänglichkeit der Reichswehr mit nur noch 100.000 Mann, die Deutschland noch geblieben waren) die öffentliche Ordnung schützen sollen, woran die Entente selbst, wenn sie Reparationen erhalten will, ein höchstes Interesse haben muß. Abrüstung mag in der Tat gerechtfertigt und vernünftig erscheinen, da sie die Besiegten daran hindert, erneut zu den Waffen zu greifen. Nun ist es offensichtlich, daß Deutschland in seiner gegenwärtigen Lage militärisch absolut unfähig ist, die Entente anzugreifen. Was könnte beispielsweise die Bayerische Einwohnerwehr tun, selbst wenn man zugibt, daß sie aus dreihunderttausend Mann besteht (Herr Ministerpräsident von Kahr behauptet, es seien nur zweihunderttausend), viele von ihnen ältere Menschen, die nur mit Gewehren bewaffnet sind, gegen Frankreich, das über beeindruckende Stellungen am Rhein und eine äußerst schlagkräftige Armee verfügt, die mit den mächtigsten und modernsten Angriffsmitteln ausgestattet ist? Es erscheint daher unnötig hart, unter strengen Sanktionen die Entwaffnung und Auflösung dieser Einwohnerwehr zu fordern, die nach dem sehr traurigen bolschewistischen Experiment vom April/Mai 1919 in Bayern gegen alle Angriffe von rechts und links die Ruhe bewahrt hat.
"Unnötig hart". Hart also darf es schon sein. Die Reparationen dürfen "hart" sein, die Abrüstung darf "hart" sein. Aber letztere soll "nicht unnötig hart" sein. Der angeblich so "deutschfreundliche" Nuntius Pacelli. Wenn solche Worte im Jahr 1921 öffentlich bekannt geworden wären, hätte sich das deutsche Volk in großer Einigkeit gegen diesen Nuntius gestellt. Es hätte ihn als jemanden wahrgenommen, der auf Seiten der ehemaligen Feindmächte steht und Politik macht. Pacelli schrieb weiter in Verteidigung der bayerischen Einwohnerwehr dieses treukatholischen Landes:
Dies ist so wahr, daß dieses katholische Land, das in der ersten Zeit nach der Revolution aufgrund der Einmischung ausländischer Elemente das unruhigste und turbulenteste in ganz Deutschland war, heute zu einem Musterbeispiel an Ordnung und Arbeit geworden ist. Warum sollte man sie durch den Verlust ihrer Organisation der (von vielen hier als sicher bezeichneten) Gefahr eines Rückfalls in Anarchie und Chaos aussetzen? Es wurde gesagt (und das inoffizielle ... hat dies wiederholt behauptet), daß die bayerische Einwohnerwehr eine monarchische Restauration anstrebt, während die Entente ein Interesse daran hat, daß sich die von den linken Parteien vertretenen republikanischen und demokratischen Tendenzen in Deutschland entwickeln. Die Wahrheit ist jedoch, daß derzeit in Bayern kein ernsthafter Mensch an eine Wiederherstellung der Monarchie denkt. Im Gegenteil, die loyalsten Monarchisten sind auch die stärksten Gegner einer solchen Idee, sowohl weil die Proklamation der Monarchie weiterhin lebhafte Unruhen in den radikalen Parteien hervorrufen und das Land sehr wahrscheinlich in einen Bürgerkrieg und die Monarchie selbst in den endgültigen Ruin führen würde, als auch weil sie den König nicht den enormen Schwierigkeiten aussetzen wollen, mit denen das Land derzeit zu kämpfen hat. Die Rückkehr der Monarchie muß daher nach Ansicht ihrer Anhänger günstigeren Zeiten überlassen werden und eine spontane Folge des Volkswillens sein.
Man spürt, wie sehr Pacelli innerlich auf Seiten der katholischen Wittelsbacher steht und für sie denkt und fühlt.
Etwas später schreibt er von "beklagenswerten Unvorsichtigkeiten":
Es läßt sich sicherlich nicht leugnen, daß in Bayern viele beklagenswerte Unvorsichtigkeiten begangen wurden und immer noch begangen werden. Unter ihnen müssen wir uns als Beispiel an das berühmte Landesfestschießen vom Sonntag, dem 26. September letzten Jahres erinnern, bei dem etwa vierzigtausend Mitglieder der Einwohnerwehr aus allen Teilen Bayerns (unter den wachsamen Augen der Vertreter der Entente) inmitten der Begeisterung der Bevölkerung durch die Straßen Münchens zogen, in geordneten Zügen, mit Gewehren bewaffnet und mit dem äußeren Anschein einer militärischen Organisation. Auch die Anwesenheit von General Ludendorff, der in der Nähe der bayerischen Hauptstadt lebt und bei Versammlungen auftritt, wo er herzlichen Beifall erhält, weckt innerhalb der Entente tiefstes Mißtrauen. Dennoch bleibt unbestreitbar, daß die Einwohnerwehr eine im Wesentlichen antikommunistische Organisation ist und für die Entente selbst keine wirkliche Bedrohung darstellen kann.
Man spürt, daß das "tiefste Mißtrauen" der Entente auch das Mißtrauen des Eugenio Pacelli selbst ist. Er erwartet schon zu diesem Zeitpunkt offenbar nichts Gutes von Ludendorff, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt, wenn wir es recht übersehen, noch gar nicht gegen irgendwelche separatistischen Pläne gestellt hatte.
"Ludendorff behindert die separatistische Bewegung des Hauses Wittelsbach" - September 1923
Zweieinhalb Jahre später scheint die Zeit zur Wiederherstellung der Monarchie schon bedeutend näher gekommen zu sein - nach Nuntius Pacelli. Am 10. September 1923 schreibt er nach Rom zunächst von den separatistischen Bestrebungen im Rheinland (Wiki), in deren Zusammenhang auch der dortige Oberkatholik und Oberbürgermeister von Bonn Konrad Adenauer eine - nach 1945 beschwiegene - bedeutende Rolle spielte:
Immer hartnäckigere Gerüchte über eine durch Gold und französischen Druck begünstigte bevorstehende Loslösung der Rheinländer vom übrigen Deutschland haben bei vielen hierzulande die Überzeugung verbreitet, daß das Reich zum Zusammenbruch und Zerfall verurteilt sei, und haben daher die separatistische Idee hervorgebracht, mit der verbunden ist der Plan zur Wiederherstellung der Monarchie.
Daß das auch in Bayern durch Gold und französischen Druck begünstigt würde, erwähnt Pacelli nicht - scheint aber doch schon nach diesen Worten mehr als nahe liegend zu sein. Pacelli weiter:
Herr von Kahr, ehemaliger Ministerpräsident Bayerns und jetzt Regierungspräsident von Oberbayern, zu dem auch München gehört, eine immer noch sehr einflußreiche Persönlichkeit, auf die die konservativen und monarchistischen Elemente in Bayern besonders zählen, besuchte mich gestern und sprach ohne Zögern mit mir darüber. Die bayerische Bevölkerung, sagte er, die mehrheitlich ihrem König (wie er Prinz Rupprecht während des Gesprächs zweifellos immer nannte) sehr verbunden sei, wolle die Monarchie und habe, obwohl sie sich als Deutsche fühle, nicht mehr die Absicht, von Berlin aus regiert zu werden. Die Wiederherstellung werde schwere Konflikte mit den sozialistischen Elementen mit sich bringen, besonders in einigen Zentren Nordbayerns; aber die Reichswehr sei loyal und die patriotischen Organisationen seien stark genug, um sich ihnen zu stellen. Herr von Kahr spielte auch auf die Idee einer Vereinigung Bayerns mit Österreich an, die man sich nach der Trennung erhoffe.
Genau das, was hier geäußert wird, hat Erich Ludendorff in all seinen Stellungnahmen zum Hitler-Ludendorff-Putsch vom November 1923 als gegeben unterstellt und als den Hauptgrund für seine Teilnahme an diesem Putsch genannt, und zwar, um genau diesen Separatismus zu verhindern. Bis heute wird genau dieser Separatismus als Hintergrund-Geschehen zum 9. November 1923 fast nirgendwo in den Geschichtsdarstellungen und Geschichtsbüchern zum 9. November 1923 auch nur ansatzweise erwähnt, geschweige denn ausreichend dargestellt. Mit diesem "wichtigsten zusammenhängenden Quellenkorpus zum deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit" sollte dieser Aspekt wohl doch einmal wieder etwas deutlicher ins Sichtfeld rücken können. In dem Bericht heißt es weiter:
Er (von Kahr) fügte hinzu, daß über die Haltung des Heiligen Stuhls die seltsamsten und widersprüchlichsten Gerüchte im Umlauf seien: Schon früher hieß es, er sei für eine Trennung, ...
holla die Waldfee - da haben wir es ja. Und von Kahr weiter:
... jetzt behaupten einige stattdessen, er strebe vielmehr die Einheit des Reiches an. Ich erwiderte, daß beide Behauptungen gleichermaßen unbegründet seien, da es die unerschütterliche Maxime des Heiligen Stuhls sei, sich aus rein politischen Fragen herauszuhalten.
Zu diesen Worten wird von Kahr selbst innerlich geschmunzelt haben. Die ganze Offenheit, die hier von Kahr gegenüber dem Nuntius Pacelli bezüglich seine Pläne an den Tag legt, macht deutlich, daß er mit der vollen Zustimmung des Heiligen Stuhls und des Nuntius Pacelli gegenüber seinen Plänen zu allen Zeiten rechnete. Selbst wenn der Heilige Stuhl "in Worten" andere Haltungen vertreten würde, konnte er doch allein an der Offenheit, in der er mit Pacelli über diese Themen sprechen konnte, erkennen, daß er sich der Sympathien des Heiligen Stuhls gewiß war.
Das wird in dem folgenden Absatz noch viel deutlicher:
Die separatistische und restaurative Bewegung des Hauses Wittelsbach wird durch verschiedene in Bayern wirkende preußische Elemente, auch von rechts, etwas behindert, insbesondere durch Ludendorff, der sich (so von Kahr) übermäßig in die bayerischen Angelegenheiten einmische und die Leitung übernehmen möchte, während diese dem König obliegt. Am vergangenen Samstagabend hielt der König auf der Tagung des Nationalverbandes Deutscher Offiziere in München eine Rede (siehe Anhang), in der jedes Wort sorgfältig abgewogen war – wie Herr von Kahr bekräftigte –und in der er die Führungshaltung kritisierte, die Ludendorff einnehmen möchte, ohne ihn namentlich zu nennen.
Es wird also schon hier klar benannt, wodurch "die separatistische Bewegung des Hauses Wittelsbach" behindert wird: "insbesondere durch Ludendorff".
Im September 1923 fand die hier erwähnte Tagung des Landesverbandes des Nationalverbandes Deutscher Offiziere in München statt. Bei dieser trat Kronprinz Rupprecht als Schirmherr auf und Hindenburg, der gerade in Bayern Urlaub machte, sandte Grüße.
Dieser Nationalverband Deutscher Offiziere wurde also schon zu diesem Zeitpunkt unterschwellig in Frontstellung gebracht gegenüber Ludendorff. Diese Frontstellung gegen Ludendorff von Seiten des Nationalverbandes Deutscher Offiziere sollte im Jahr 1924 noch deutlicher zutage kommen.
Es wird hier im übrigen auch deutlich, wie sehr aufeinander abgestimmt das Handeln von Kahrs und des Kronprinzen Rupprecht aufeinander war und wie offen darüber zum dritten gegenüber dem Nuntius Pacelli gesprochen werden konnte. Letzteres war nur möglich, weil man sich seiner Zustimmung und Sympathie sicher war, für die es natürlich auch sonst die reichsten Zeugnisse gibt.
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Abb. 5: "Der Nationalverband Deutscher Offiziere in Selbstbeleuchtung!" - Eine Schrift Erich Ludendorffs von 1924/25 |
Wir lesen weiter:
Wenn sich Bayern tatsächlich abspalten und andererseits eine vom Reich unabhängige Rheinisch-Westfälische Republik errichtet würde, würde Letzteres – wenn es als solches fortbestehen sollte – fast ausschließlich aus protestantischen und größtenteils bolschewistischen Bevölkerungsgruppen bestehen, was die Lage der katholischen Kirche in diesen Ländern sehr schwierig machen würde.
Das war das einzige oder das wesentliche Problem, das Pacelli angesichts solcher künftig erwarteter Entwicklungen, bzw. Pläne hatte. Ansonsten hatte er recht wenig Probleme mit diesen Plänen. Man hört womöglich sogar heraus, daß es gar nicht das Schlechteste sein brauchte, die protestantischen, preußischen, ketzerischen Landesteile Deutschlands dem Bolschewismus anheim fallen zu lassen. (Was ja dann 1945 auch geschehen sollte, noch zu jener Zeit, in der Pacelli Papst sein sollte.)
Hitler steht in "Ehrerbietung" von Kahr gegenüber - Ludendorff nicht - Oktober 1923
Ließen die bislang zitierten Berichte schon so gut wie keine Wünsche mehr offen an Deutlichkdeit, wird es womöglich noch spannender in dem Bericht vom 3. Oktober 1923. Denn hier kommt Pacelli nun auf die Rolle zu sprechen, die Adolf Hitler in diesen Plänen spielte:
Hochwürdigste Eminenz,
heute Morgen hat mich der Generalstaatskommissar in Bayern, Herr von Kahr, besucht. Er wiederholte mir gegenüber, wie schwer die Verantwortung auf ihm lastet und wie schmerzlich es für ihn ist, gegen die rechtsradikalen Elemente, die Nationalsozialisten, kämpfen zu müssen, mit denen er sich trotz ihrer Exzesse letztlich durch gemeinsame Ideale verbunden fühlt. Hitler hat ihm seine Ehrerbietung und persönliche Ergebenheit zum Ausdruck gebracht, und Kahr zweifelt nicht daran, mit ihm und seinen Anhängern zu einer Verständigung zu gelangen, was jedoch im Falle von General Ludendorff unmöglich erscheint. Darüber hinaus verfügt er über die Kraft, seine Autorität durchzusetzen; die Reichswehr (bekräftigte er) steht ihm in Bayern bis zum letzten Mann treu zur Seite.
Dieses Zitat macht die gesamte Situation am Vorabend des 9. November klar. Wenn also von Kahr, von Lossow und von Seisser in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 sich vom Putsch Adolf Hitlers distanzierten, dann nicht, weil für sie eine Zusammenarbeit mit Adolf Hitler ein Problem dargestellt hätte. Das einzige Problem war die "unmögliche" Zusammenarbeit mit Erich Ludendorff. Mit Hitler hätte man wittelsbacherischen Separatismus betreiben können - nicht aber mit Ludendorff.
Und damit ist hier auch schon der Hauptgrund erkennbar, warum sich Hitler ab 1924 von Ludendorff distanzierte. Hitler wollte schon vor dem Putsch vom 9. November 1923 mit der katholischen Kirche an die Macht kommen, nicht gegen sie.
Pacelli berichtet dann, wie hoch die Empörung in München gegenüber dem Klerus und gegenüber seiner Person hochschwappte nach dem Scheitern des Hitler-Putsches und aufgrund des Umschwenkens von Kahrs. Er berichtet, es bestehe die unbegründete Vermutung, das Umschwenken sei unter seinem eigenen Einfluß geschehen.
Bei der Offenheit, mit der sich von Kahr zuvor gegenüber Pacelli geäußert hatte, kann auch vom nachlebenden Historiker nichts anderes angenommen werden.
Ludendorffs Verteidigungsrede vor dem Volksgerichtshof ließ dann erneut die antikatholische Stimmung in Bayern hochgehen, wogegen sich die gesamte katholische Presse einmütig gewandt habe.
Nuntius Pacelli berichtet die Inhalte der Rede von Erich Ludendorff ausführlich an den Papst, für so wichtig hielt er diese Rede und für so wichtig erachtete er es, daß die Argumente, die in dieser Rede gegen die katholische Kirche vorgetragen worden waren, bekannt wären.
Das Jahr 1924 durchzieht dann im weiteren die Auseinandersetzung zwischen dem Kronprinzen Rupprecht von Bayern und Erich Ludendorff, weil letzterer ersteren unmittelbar nach dem 9. November 1923 in einem Interview als mitverantwortlich bezeichnet hatte für das Scheitern des Putsches. Dies faßte der Kronprinz als eine Ehrensache auf. Verschiedene Vermittlungsversuche zwischen beiden scheiterten, was wesentlich dazu beitrug, daß Ludendorff unter den "oberen Zehntausend" Deutschlands für Jahre hinweg nicht mehr so gelitten sein sollte wie er es zuvor gewesen war.
Vorläufige Schlußbemerkung: Die Internetseite pacelli-edition.de ist seit heute morgen nicht mehr zugänglich. Deshalb kann das wörtliche Zitat zu den Protesten vor der Nuntiatur und gegen den Nuntius zur Zeit nicht wörtlich gebracht werden und der vorliegende Aufsatz auch sonst vorläufig nicht vollständig ausgearbeitet und inhaltlich abgerundet werden. Es kann auch nicht geschaut werden, wodurch die hier gewonnenen Erkenntnisse durch andere Berichte des Nuntius Pacelli ergänzt werden können. - Gleichzeitig mit diesem Aufsatz erscheint ein Video, in dem die Inhalte dieses Aufsatzes in Videoform referiert werden (siehe: Yt2025).
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- Ludendorff, Mathilde (Hg.): General und Kardinal. Ludendorff über die Politik des neuen Papstes Pius XII. (Pacelli) 1917 - 1937. Zusammengestellt und herausgegeben von Mathilde Ludendorff. Ludendorffs Verlag, München 1939 (Heft 1 des "Laufenden Schriftbezuges 8") (Archiv)
- Ludendorff, Erich: Vom Feldherrn zum Weltrevolutionär und Wegbereiter Deutscher Volksschöpfung. Ludendorffs Verlag, München 1941 (Archiv)
- Ludendorff, General: Auf dem Weg zur Feldherrnhalle. Lebenserinnerungen an die Zeit des 9. 11. 1923 mit Dokumenten in 5 Anlagen. Ludendorffs Verlag, München 1937 (1. - 54. Tsd.) (156 S.) (Scribd, Archiv, als Hörbuch); mit Dokumenten in 6 Anlagen. 1938 (55. - 64. Tsd.) (174 S.) (GB) (die schwerer erhältliche, ergänzte 6. Anlage). Faksimile-Druck der Ausgabe von 1937 in: Archiv-Edition, Verlag für ganzheitliche Forschung, Viöl 1996
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