Dienstag, 8. Juni 2010

Studiengruppe "Naturalismus, völkische Subkulturen, Ethik und Politik seit 1900 / Ludendorff-Bewegung"

Das Studium einer völkischen Subkultur
A. Dörfler-Dierken

Im Jahr 1998 ist die Disseration des evangelischen Pfarrers Frank Schnoor "Mathilde Ludendorff und das Christentum" erschienen (1). Mathilde Ludendorff hat im Jahr 1930 ihr Buch herausgegeben "Erlösung von Jesu Christo". Durch diesses Buch hat sich die damalige evangelische Kirche angegriffen gefühlt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hat es von Seiten der Evangelischen Kirche emotionsgeladene "Kampfschriften" gegen das Gedankengut von Mathilde Ludendorff gegeben, um so mehr, als Mathilde Ludendorff selbst Tochter eines evangelischen Pfarrers gewesen ist. Mit der Dissertation aus dem Jahr 1998 war zum ersten mal aus den Reihen der evangelischen Theologen heraus der Versuch unternommen worden zu einer sachlicheren, ruhigeren, entspannteren, emotionsloseren Auseinandersetzung mit dem Gedankengut und den Bestrebungen von Mathilde Ludendorff. Die Absichten der Dissertation haben in Theologen-Kreisen wohlwollende Aufnahme gefunden. Die evangelische Theologin Prof. Angelika Dörfler-Dierken hat in einer Rezension auf das Wünschenswerte der weitergehenden Erforschung der in der Dissertation behandelten völkischen Subkultur aufmerksam gemacht. Sie schrieb (2):

Schnoors Untersuchung macht neugierig, weitere Details zu erfahren und eine Deutung in breiterer Perspektive anzuschließen. Mathilde Ludendorff scheint eine charismatisch begabte Führerpersönlichkeit gewesen zu sein, die es verstanden hat, sich im Stil einer ‚Prophetin’ mit divinatorischer Begabung zu inszenieren. Sie hat offenbar nicht nur ihren Mann, sondern auch breitere Kreise für ihre Ideen begeistert und diesen ihre Wirklichkeitssicht nahegebracht.

Dörfler-Dierken fragt (2):

Inwiefern, wodurch und warum konnte sie solche Wirksamkeit erlangen? Schnoor führt ihren unbeugsamen Willen als Begründung an - aber diese Erklärung reicht schwerlich aus, wenn man den Einfluß begreifen will, den diese Frau auf ihre Umgebung und breite Kreise ausübte.

Dörfler-Dierken vermutet (2):

Mathilde Ludendorff konnte wohl nur deshalb Anhänger überzeugen, weil sie dasjenige aussprach, was diese ihrerseits hören wollten. Das würde aber bedeuten, daß besonders im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts breite Kreise einer christlich-abendländischen Weltdeutung weitgehend entfremdet waren und nach einer neuen Religion hungerten.

Das sollte ja wohl vorkommen, zumindest außerhalb theologischer Kreise. Weiter schreibt Frau Dörfler-Dierken (2):

Interessant wäre es überdies, die sachlich-geistige Nähe beziehungsweise Ferne des Weltbildes der Mathilde Ludendorff zur nationalsozialistischen Ideologie einerseits, zu anderen Ideologien der völkischen Bewegung andererseits bestimmt zu sehen. Manchen Gedanken der Ludendorffer dürfte man auch bei Deutschen Christen wiederfinden können. Die Schriften der Ludendorffer wären also auch vor diesem Hintergrund in ihrer Struktur zu würdigen. Damit würde sich ein interessanter Einblick in die Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergeben.

Abschließend führt Dörfler-Dierken aus (2):

Frauen haben allerdings wohl in keiner dieser Gruppierungen eine vergleichbar herausgehobene Rolle gespielt. Diese Beobachtung spricht für die Einzigartigkeit der Mathilde Ludendorff. Die Beschäftigung mit ihr, dem ‚Haus Ludendorf’ und den Ludendorffern regt dazu an, sich mit dem Kampf konkurrierender Ideologien in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts neu zu beschäftigen - nicht nur in geistes- und ideengeschichtlicher sondern auch in religionspsychologischer und -soziologischer Hinsicht.

Neben diesen grundlegendere Fragestellungen kommen Dörfler-Dierken bei der Lektüre der Dissertation auch noch einige detailliertere Fragen in den Sinn (2):

Weiterhin fragt sich der Leser, inwiefern das Ehepaar Ludendorff ökonomisch von seinen Unternehmungen profitierte. Handelt es sich bei Verlag und Schriftenvertrieb um Betriebe, die Gewinn für ihren Besitzer abwarfen oder wurden alle Überschüsse wieder in den Ausbau der Bewegung investiert? Welche Anhängerscharen konnte man zum Bezug der Verlagspostillen mobilisieren? Wie viel brachte es ein, wenn Auflagen von über 100.000 Heftchen gedruckt wurden? Offen läßt Schnoor auch, wie die in der propagandistischen Arbeit tätigen Anhänger des ‚Hauses Ludendorff’, die Redner, Buchhändler und Verlagsmitarbeiter finanziert wurden. Offenbar gab die Selbstinszenierung einer Frau vielen Arbeit.

Und (2):

Über die Zahl der Anhänger des ‚Hauses Ludendorff’ zu verschiedenen Zeiten erhellt die Untersuchung nichts. Lassen die gelegentlich genannten Auflagenzahlen verschiedener Veröffentlichungen Rückschlüsse auf deren Zahl zu? Da Schnoor sich auf das literarische Werk der Mathilde Ludendorff konzentriert, sind ihm religionssoziologische Fragen fremd.

Solche und sehr viele ähnliche und auch noch ganz anderweitige Fragestellungen waren schließlich auch der Antrieb zur Gründung des vorliegenden Blogs, der Studiengruppe "Naturalismus, völkische Subkulturen, Ethik und Politik seit 1900 / Ludendorff-Bewegung".

Ergänzung 21.2.2012: Dieser Blog ist vor zwei Jahren gegründet worden. Inzwischen ist das Thema Hintergrundpolitik-Kritik  - Stichwort 9/11-Wahrheitsbewegung, "Infokrieger", Geheimdienst-Kritik und anderes - nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch für die Autoren dieses Blogs deutlich stärker in den Vordergrund getreten, als dies zum Zeitpunkt der Gründung dieser Gruppe der Fall war. Und da wohl derzeit gerade auch auf diesem Gebiet ein großer Aktualitätsbezug vieler Schriften der Ludendorffs besteht - der in derzeit erarbeiteten Buchveröffentlichungen noch genauer dokumentiert werden soll (GA-j!2011) - wird diese Gruppe und der Blog umbenannt in: "Studiengruppe Naturalismus und Hintergrundpolitik-Kritik seit 1900 / Ludendorff-Bewegung". Gerade über das Thema Hintergrundpolitik-Kritik sind wohl Ende der 1920er Jahren den Ludendorffs die meisten Anhänger zugeströmt. Bei Berücksichtigung dieser Thematik werden einige der genannten Fragen von Dörfler-Dierken leichtester zu beantworten sein.

Ergänzung 7.5.2016: Zur besseren Verständlichkeit wird im Titel dieses Blogs anstelle des Begriffs "Naturalismus" die Bezeichnung "Naturwissenschaftsnahes Philosophieren" verwendet. Er wird also ab jetzt benannt: "Studiengruppe Naturalismus - Studiengruppe 'Naturwissenschaftsnahes Philosophieren und Hintergrundpolitik-Kritik seit 1900 / Ludendorff-Bewegung'". Der Anspruch der Philosophie Mathilde Ludendorffs ist es ja, mit dem naturwissenschaftlichen Kenntnisstand in Übereinstimmung zu stehen und mit dem künftigen Schritt halten zu können.

Die Arbeit der Studiengruppe

Die Studiengruppe stellt sich die Aufgabe, die bis hier schon angerissenen und vielerlei weitere Fragen zu bearbeiten. Dazu sollen veröffentlichte und unveröffentlichte Lebenszeugnisse Erich Ludendorffs (1865-1937) und Mathilde Ludendorffs (1874-1966), sowie der von diesen beiden Persönlichkeiten begründeten Ludendorff-Bewegung gesammelt, dokumentiert werden. Sie sollen seriösen Archiven überstellt werden. Und die neuen Quellen sollen jeweils wissenschaftlich-kritisch ausgewertet werden, das heißt, unter den verschiedensten wissenschaftlichen Perspektiven abgeklopft werden. Auf möglichste Vollständigkeit der Dokumentation wird dabei ebenso viel Wert gelegt wie auf Detail- und Tiefenschärfe. Die soziologische Erforschung einer Subkultur erfaßt auch viele Aspekte der Alltagsgeschichte. Aber auch die Überprüfung der Gültigkeit der philosophischen und psychologischen Aussagen - vor dem Hintergrund der Wissenschaftsgeschichte - ist bedeutsam. Über diese Tätigkeit kommt die Studiengruppe mit wissenschaftlich oder sonst an diesen Themen interessierten Menschen und  Institutionen ins Gespräch.

Die möglichst vollständige Dokumentation einer expemplarischen völkischen Subkultur des 20. Jahrhunderts und ihrer geistigen Grundlagen soll ganz allgemein die Auseinandersetzung mit dem kulturgeschichtlichen Phänomen  "Subkultur" und der in ihnen vertretenen Gedanken fördern. Durch eine solche Studiengruppe soll auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer solchen besser koordiniert und moderiert werden als dies  bisher geschehen ist.

Subkulturen haben nicht immer - aber sehr oft - die Eigenschaft, sich von einer Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, ihr mit Mißtrauen zu begegnen, da sie derselben gegenüber oft keine Anpassungsbereitschaft zeigen, und der gegenüber deshalb auch partielle Kommunikationsverweigerung auftreten kann. Auch diese Phänomene für sich können soziologisch analysiert werden.

Subkulturen stellen ganz allgemein gesellschaftliche "Experimentierfelder" dar, die gelingen oder scheitern können. Dabei werden Lebens(re)form-"Experimente" durchgeführt, die aus evolutionärer Sicht als kulturelle Selektionsprozesse auf individueller und auf Gruppenebene aufgefaßt werden können. Soziologisch gut erforschte, geradezu "paradigmatische" Beispiele für die Gesetzmäßigkeiten des Überlebens unangepaßter Subkulturen und der dabei ablaufenden Selektionsprozesse stellt etwa die 500-jährige Geschichte der protestantischen Wiedertäufer, der Amischen, Hutterer und Mennoniten in Nordamerika  dar (3).

Soziologische Analyse einer Subkultur

Zur Erforschung derartiger Fragen muß die Studiengruppe Gelder beantragen und einwerben, ein Mitteilungsblatt, bzw. Jahrbuch herausgeben. Sie wird, wenn möglich diverse, notwendige Archivaufenthalte finanzieren, historische Quellen und Nachlässe so vollständig wie möglich aufkaufen, sichern, dokumentieren und an Archive weiterleiten. Sie wird Tagungen und Ausstellungen veranstalten, Bücher herausgeben und einen Internet-Auftritt anbieten, zum Beispiel in Form eines Internetblogs (StgrNat).

Gemäß ihres rein wissenschaftlichen Ansatzes ist eine solche Studiengruppe für sich weltanschaulich und politisch neutral. Insbesondere soll es bei der kritischen Aufarbeitung eines solchen kulturgeschichtlichen Phänomens wie dem der "Ludendorff-Bewegung" im Rahmen des naturalistischen und völkischen Diskurses seit 1900 darum gehen, sich auf den Originalton der Lebenszeugnisse Erich und Mathilde Ludendorffs, bzw. der von ihnen geleiteten Bewegung einzulassen. Sekundärliteratur muß auch hier für den Historiker immer das bleiben, was sie auch sonst für ihn sein muß: sekundär.

"Seltsame Legenden" rund um Erich und Mathilde Ludendorff

Gerade in Bezug auf ein solches kulturgeschichtliches Phänomen wie das der "Ludendorff-Bewegung" ist es in der Wissenschaft an vielen Stellen üblich geworden, bloß auf Literatur zweiter oder dritter Hand zurückzugreifen. Dabei wird oft geradezu "alles" zu Rate gezogen, nur nicht die originalen Lebensäußerungen der behandelten Persönlichkeiten selbst und ihre eigene Sichtweise auf die Welt und ihr Leben. Ebensowenig werden die Sichtweisen von Familienangehörigen, Freunden, Mitarbeitern und Anhängern derselben in die engeren Erwägungen und Beurteilungen mit einbezogen. Solche Defizite treten selbst in ansonsten seriösen, quellenkritischen Studien auf.

Diese Tatsache kann beispielsweise illustriert werden anhand eines Aufsatzes in der renommierten "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" aus dem Jahr 2006 (4). Oder auch anhand eines einflußreichen Aufsatzes des Verfassungsschutz-Beamten Fritz Tobias über das berühmte, vormals selbst in Schulbüchern zitierte Telegramm Erich Ludendorffs an Paul von Hindenburg im Januar 1933 anläßlich der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler (5, 11). An die These von Fritz Tobias hat sich dann auch ein Aufsatz des Historikers Lothar Gruchmann angeschlossen. Der Historiker Henrik Eberle schreibt dazu in seiner Kritik noch einigermaßen zurückhaltend - aber völlig zutreffend (vgl. Henrik Eberle, Briefe an Hitler, 2007, S. 449, Anm. 165):

Ludendorffs Briefe werden an dieser Stelle wiedergegeben, da sich um sie seltsame Legenden ranken. Zunächst galten sie, obwohl nur von Hitlers Rechtsanwalt Hans Frank mündlich überliefert, als prophetische Warnung vor Hitlers Herrschaft. Dann wurde ihre Existenz überhaupt bestritten. In den 1990er Jahren erhielt Ian Kershaw offenbar Kenntnis von der Überlieferung dieser Briefe und benutzte sie in seiner Hitler-Biographie. Seine Zitation ist jedoch mißverständlich. (...) Ungenau argumentiert dazu auch Lothar Gruchmann "Ludendorffs 'prophetischer' Brief an Hindenburg vom Januar/Februar 1933". In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 47, 1999, S. 559-562.

Hier ist nicht der Ort, auf die Tatsache einzugehen, daß der Hobbyhistoriker, Verfassungsschutzbeamte und Zuarbeiter des Magazins "Der Spiegel", Fritz Tobias auch sonst eine nicht gerade unumstrittene Rolle in der deutschen Zeitgeschichtsforschung nach 1945 gespielt hat. Und daß er dabei - z.B. - Seilschaften innerhalb der für ihn zuständigen Ministerien auf Landes- und Bundesebene in Schutz genommen hat. Solche Hintergründe sind bei der Aufarbeitung der Biographie eines solchen Hintergrundpolitik-Kritikers wie Erich Ludendorff immer sehr deutlich mit in Rechnung zu stellen. (Mehr zum Thema inzwischen u.a. hier: 11.)

Als ein positives Beispiel kann demgegenüber der Historiker Professor Manfred Nebelin genannt werden, dessen Studie aus dem Jahr 2000 die Lebenserinnerungen Erich Ludendorffs bei der Analyse gründlicher mit heranzieht (10, S. 251-253). // 3.5.2020: Überhaupt kann und soll in diesen einführenden Blogartikel, der als erster Artikel hier auf dem Blog vor zehn Jahren erschienen ist, zehn Jahre später kein Überblick eingearbeitet werden über die zahlreichen Aufsätze zu solchen Problemen, die inzwischen auf diesem Blog erschienen sind. Bitte dazu einfach das Inhaltsverzeichnis in der Randspalte durchsehen. //

Die fließenden Übergänge zwischen modernen naturalistischen und traditionellen völkischen Menschenbildern

Die Dringlichkeit der Arbeit einer solchen hier vorgestellten Studiengruppe ergibt sich zusätzlich jedoch auch noch aus ganz anderen Anlässen. Aus Anlässen, die weit über das bloße Bedürfnis der zeitgeschichtlichen Quellensicherung und der soziologischen Analyse einer Splittergruppe und Subkultur im völkischen Milieu Deutschlands während des 20. Jahrhunderts hinausgehen.

Die Übergänge eines konsequent naturalistischen (naturwissenschaftsnahen) Menschenbildes, das den Menschen unter evolutionären Aspekten als Gruppenwesen erfaßt, zu traditionelleren, völkischen Denkmustern des 20. Jahrhunderts sind in den letzten Jahren fließende geworden (6). Es handelt sich also um jenes naturalistische Menschenbild, das die evolutionär entstandene Gliederung des Menschen in kulturelle, soziale und religiöse Gruppen, sowie in Herkunfts- und Abstammungsgruppen unter evolutionären Aspekten berücksichtigt, sowie seit 2017 insbesondere auch aus der Blickrichtung der archäogenetischen Forschung heraus, in der besorgt auf Wiederbelebung völkischer Weltbilder aufmerksam gemacht wird (Stichwort: "Kossinna's Smile").

Solche eben genannten kulturell definierten Gruppen weisen eine jeweils unterschiedliche kulturelle Stabilität und Lebensdauer auf, auch unterschiedliche Demographien und Bevölkerungsweisen. Bei ihrer Erforschung geraten auch zunehmend populationsgenetische Häufigkeitsunterschiede in den Aufmerksamkeitsfokus der Wissenschaft. Häufigkeitsunterschiede, die sich dann auch bis in die genetische Kodierung motivationaler, emotionaler und Intelligenz-Merkmale erstrecken (6). Die Übergänge eines solchen modernen, naturalistischen Menschenbildes zu traditionelleren Denkmustern des 20. Jahrhunderts werden dann ohne Zweifel fließende.

Genetiker, Anthropologen, Historiker, Soziologen und Wissenschaftsjournalisten verfolgen derzeit noch jeweils unterschiedliche Strategien, ihre Aufmerksamkeit von dem Fließenden im Übergang von naturwissenschaftlichen, soziobiologischen Sichtweisen zu traditionelleren völkischen Denkstrukturen wegzulenken. Dieses Fließende wird mitunter mehr oder weniger barsch ignoriert, verleugnet oder kategorisch verneint. Man versucht, es vor sich selbst und Kollegen kleinzureden, bzw. durch sprachliche Umschreibungen und Neuformulierungen so zu verschleiern, daß es für eine uninformierte Öffentlichkeit gar nicht sichtbar ist. // 3.5.2020: So war der Diskussionsstand 2010, zehn Jahre später wäre er deutlich anders nuanciert darzustellen, es wäre etwa zu berücksichtigen, daß der Humangenetiker David Reich in seinem Buch ("Who we are ...") sich für die Wiederverwendung des Rasse-Begriffes in der Humanbiologie und -genetik ausspricht - und anderes mehr. //

Paradigmenwechsel der letzten zehn Jahre durch Humangenetik und Soziobiologie

Allerdings wissen wir, daß die Naturwissenschaft ihren  eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und es religiösen und geisteswissenschaftlichen Modeströmungen und Ideologien jeweils höchstens für Jahrzehnte gelang, die Fortschritte in der Naturwissenschaft unberücksichtigt zu lassen. Die Debatte rund um Thilo Sarrazin im Jahr 2010, die von Norbert Bolz als ein "Geschichtszeichen", von Frank Schirrmacher als ein "Paradigmenwechsel" bezeichnet wurde, gab von dem, was sich schon damals anbahnte, erste Ahnungen.

Ist man als einzelner Forscher aber an einen Punkt gelangt, wo sich solche "Ahnungen" geradezu aufdrängen - und das gilt auch für Mitglieder dieser Studiengruppe und auch lange vor der letztjährigen Sarrazin-Debatte (übrigens inzwischen zusammen mit so vielen anderen, auch bekannten Autoren und Forschern wie etwa: Richard Dawkins, Steven Pinker, Nicholas Wade, James Watson, Ernst Mayr, Edward O. Wilson, A.W.F. Edwards, David Sloan Wilson, Henry Harpending, Gregory Cochran, Samuel Bowles, Brian Ferguson, Armand Leroi, Sewall Wright, William D. Hamilton) -, ist der einzelne Forscher also an einen solchen Punkt gelangt, tritt ihm unabweislich die Dringlichkeit und Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den traditionellen, völkischen Denkmustern und Diskursen, mit den naturalistischen Diskursen des 20. Jahrhunderts insgesamt vor Augen (6).

Wie groß ist die Gefahr neuer naturalistischer Fehlschlüsse?

Insbesondere stellt sich dann die Frage, inwieweit die Sorge vor neuen "naturalistischen Fehlschlüssen" berechtigt ist. Und inwieweit diese Sorge auch gebannt werden kann. Es stellt sich die Frage, ob naturalistisches Denken "in Gruppen", ob "völkisches" Denken mehr oder weniger zwangsläufig zu ethnischen Kriegen und Massenmord führen müsse. Ob völkisches Denken in inhärenter Weise dazu angelegt ist, mehr oder weniger zwangsläufig in Inhumanität zu enden. Es ist dann sehr dringlich zu fragen, ob die Möglichkeit besteht, wenn nicht sogar die Notwendigkeit, den sogenannten "völkischen Gedanken" in tieferem Sinne human zu vertreten. Also: Ob so etwas wie ein "völkischer Humanismus" - zumindest der Möglichkeit nach - gedacht werden könne. Und sei es nur versuchsweise. Ob er durchgespielt werden könne. Auch ganz unabhängig von den mehr oder weniger polemischen Zusammenhängen, in denen dieser Begriff heute - mitunter - gebraucht wird.

// Bis zum Jahr 2020 hat ein Begriff wie "völkisch" wieder eine ganz neue Wahrnehmung und ein neues "Framing" in der Öffentlichkeit erhalten. Es bleibt weiter schwierig, sachlich und emotionslos Fragen rund um solche Begrifflichkeiten zu erörtern. //

Das bislang in der Wissenschaft nur wenig berücksichtigten Denksystem der naturalistischen Denkerin Mathilde Ludendorff und damit der Ludendorff-Bewegung ganz allgemein, sowie der Diskurse, in die diese eingebettet waren, scheint jedenfalls einen solchen Grad von Differenziertheit aufzuweisen, daß es an ihm - wie vielleicht an wenig anderen Diskursen - ermöglicht wird, solche Fragestellungen theoretisch durchzuspielen und zu erproben.

Von verschiedenen Autoren ist darauf hingewiesen worden, daß sich in dem Denksystem einer Mathilde Ludendorff überraschend moderne mit archaischen oder auch auf den ersten Blick ganz abwegigen Inhalten und Wortgebräuchen vereinigt finden (vgl. etwa: 1).

Ist ein "völkischer Humanismus" möglich?

An dieser Stelle dafür nur ein erstes Beispiel als ein erster Zugang zu einem solchen Fragekreis. In dem ersten philosophischen Werk von Mathilde Ludendorff, erschienen 1921 unter dem Titel "Triumph des Unsterblichkeitwillens" (7), wird der Gedanke formuliert: "Aller Menschen Dasein ist heilig". Dies geschieht in folgendem Kontext:

... Dein eigenes Dasein ist heilig,
Der Sippen, des Volkes Dasein ist heilig,
Und aller Menschen Dasein ist heilig,
Weil alle Menschen auf Erden
Bewußtsein des Gottes werden könnten,
Solange ihre Seele das Göttliche noch erlebt.
So darfst du durch Töten
Nur dir und dem Volke in Todesnot
Jenseitserleben schützen. ...

Der Satz "Aller Menschen Dasein ist heilig" erscheint natürlich auf den ersten Blick als ein geeigneter Anknüpfungspunkt, um über die Möglichkeit eines etwaigen "völkischen Humanismus" nachzudenken.

Doch letztlich würde sich dann insgesamt ja früher oder später doch die Frage anschließen, wie sich denn diese Mathilde Ludendorff und die Ludendorff-Bewegung überhaupt während des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges gegenüber dem Nationalsozialismus, gegenüber seinen imperialistischen Kriegen und gegenüber seinen inhumanen Verbrechen positioniert haben. Welche Handlungsspielräume hat es hier gegeben? In welcher Weise sind sie genutzt worden? Ist es richtig, wenn die Ludendorff-Bewegung für sich in Anspruch nimmt, dem Widerstand gegen Adolf Hitler und gegen den Nationalsozialismus zugerechnet werden? Und falls dies bejaht werden müßte: inwiefern? Und inwiefern ganz sicherlich auch nicht? (8-10) (Zu diesen Fragen noch eine Ergänzung ganz am Ende dieses Artikels, siehe unten.)

Mit diesen Ausführungen sollen nur erste Andeutungen gegeben werden, welche Fragen hier zu behandeln wären. Es können noch viele weitere Gründe genannt werden - die in künftigen Veröffentlichungen der Studiengruppe auch genauer erläutert werden sollen, die es einem geraten erscheinen lassen können, gerade das kulturgeschichtliche Phänomen "Ludendorff-Bewegung" einer genaueren Analyse zu unterziehen, wenn man nach naturalistischen Diskursen des 20. Jahrhunderts fragt.

Ein exemplarischer Fall naturalistisch-völkischen Denkens und Handelns im Deutschland des 20. Jahrhunderts

Als weitere Gründe, warum zu diesem Zweck exemplarisch unter anderem gerade Mathilde Ludendorff behandelt werden soll, ist darauf zu verweisen, daß sie - das wird vielfach in der Literatur bestätigt - keineswegs eine unbegabte Frau gewesen ist. Als eine der ersten Frauen studierte sie Medizin und Psychiatrie bis zur Promotion. In den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges arbeitete sie als Assistentin des Begründers der naturwissenschaftlichen Psychiatrie, nämlich Emil Kraepelins (Wiki) in München.

Zugleich war sie schon in jener Zeit aus der Kirche ausgetreten. Sie war Mitglied im Monistenbund Ernst Haeckels (Wiki) geworden. In nur allzu typischer Weise stammte sie zudem aus einer traditionsreichen protestantischen Pfarrerfamilie. In ihrem ersten philosophischen Werk "Triumph des Unsterblichkeitwillens" von 1921 (7) versuchte sie die Grundlegung einer neuen Philosophie, Religion und Weltdeutung in Anknüpfung an wissenschaftliche Kerneinsichten ihres Freiburger akademischen Lehrers, des frühen deutschen Darwinsten August Weismann (Wiki). Die von ihm gelehrte Trennung von Keimbahn und Körperzellen und die damit einhergehende, von ihm gelehrte "potentielle Unsterblichkeit der Einzeller" ist der naturwissenschaftliche Ausgangspunkt des naturalistisch-philosophischen Diskurses seiner Schülerin.

Kritische, sachliche Auseinandersetzung statt Pauschalurteile

Wie der einzelne Autor oder Kommentator, der im Rahmen dieser Studiengruppe Diskussionsbeiträge abgibt, zu dem Philosophieren von Mathilde Ludendorff selbst steht, ob er Teile darin - wie etwa der Autor Frank Schnoor (1) - zumindest als bedenkenswert ansieht oder ob er dieses Philosophieren schlankweg als verwerflich ansieht, ob er es als Gesamtprodukt dem "Abfallhaufen der Geschichte" für Wert erachtet, das ist dem einzelnen zu überlassen. Die Studiengruppe will ein Forum bieten, keine unfehlbaren Antworten geben. Aber auch oberflächlich pauschalisierende oder popularisierende "Propaganda" soll nicht betrieben werden, pauschalisierenden Gefühlsurteilen das Wort nicht überlassen bleiben.

Soweit es sich also um sachliche, kritische und selbstkritische Positionierungen handelt, die zunächst zu urteilen versuchen, bevor sie verurteilen, und die auch die Mühen des Studiums umfangreicherer Originalquellen nicht scheuen, sind sie als Diskussionstandpunkte im Rahmen der Studiengruppe willkommen. Beiträge, die eine aufrichtige, innere und kritische Distanz, die sich zu allen Aspekten dieses Quellenmaterials heute mehr oder weniger zwangsläufig und von selbst ergeben muß, nicht oder nur in Teilen erkennen lassen, sind nicht unbedingt die willkommensten. Es muß durchaus damit gerechnet werden, daß ihnen - zumindest im Rahmen dieser Studiengruppe - kein Forum gegeben wird.

Denn es ist zu offensichtlich, wieviel Mißbrauch in der Geschichte mit solchem, hier zu erörterndem Gedankengut getrieben worden ist, als daß einem erneuten Mißbrauch auch nur eine Spalt breit die Tür geöffnet werden darf.

Weitere Ergänzung: Ein zentraler Aspekt der Biographien von Erich und Mathilde Ludendorffs wird es - wie oben schon angesprochen - bleiben, ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus und zum Dritten Reich nachzugehen. Der Historiker Manfred Nebelin hat dazu in der Rezension zu einer Neuerscheinung in der geschrieben (FAZ, Juni 2014):

"Leider bleibt es hier wieder bei spärlichen Hinweisen, etwa zur Rolle von Ludendorffs zweiter Ehefrau, der Nervenärztin und Religionsphilosophin Mathilde von Kemnitz ('die wirre Mathilde'). So lassen sich die ungeklärten Fragen nach dem Verhältnis Ludendorffs zu Hitler, der NS-Ideologie und dem 'Dritten Reich' nicht zufriedenstellend beantworten."

Zu diesen und zahlreichen anderen ungeklärten Fragen will die Studiengruppe im Rahmen ihrer Möglichkeiten Beiträge leisten. Eine der wichtigsten Antworten auf die soeben gestellten Fragen findet sich schon seit Jahrzehnten - und von der Wissenschaft fast gänzlich unbeachtet - in der Biographie über den Hitler-Gegner Ludwig Beck (Autor: Klaus-Jürgen Müller) (StgrNat2012). An die Forschungsergebnisse dieser Biographie sollte künftig in weiteren Forschungen und historischen Einordnungen verstärkt angeknüpft werden.

/ Erstveröffentlichung: 14.10.2009, 
Ergänzung: 24.01.2013,
letzte Überarbeitung: 3.5.2020 /
_________________
  1. Schnoor, Frank: Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates Deutsche Hochschulschriften, Kiel 1998 (und weitere bei Wikipedia genannte Literatur)
  2. Dörfler-Dierken, Angelika: Rezension von Frank Schnoor „Mathilde Ludendorff und das Christentum“ (2001). In: Theologische Literaturzeitung, Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 129/2004, Nr. 7 und 8, S. 814 – 817
  3. Hostetler, John A.: Amish Society. The Johns Hopkins University Press, 4th Edition 1993
  4. Mildenberger, Florian: Erotik, Polygamie, Muttertum. Die Wandlungen der Mathilde Ludendorff. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 07-08/2006
  5. Fritz Tobias: Ludendorff, Hindenburg und Hitler. Das Phantasieprodukt des Ludendorff-Briefes. In: Uwe Backes; Eckhard Jesse; Rainer Zitelmann (Hrsg.): Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus. Propyläen Verlag Frankfurt/Main und Berlin 1990
  6. Wiwjorra, Ingo: Ethnische Anthropologie. Zwischen scientistischer Innovation und völkischer Tradition. In: Puschner, Uwe; Großmann, G. Ulrich (Hg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009
    Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlags-Anstalt, München, 7. Auflage 2010
  7. Ludendorff, Mathilde: Triumph des Unsterblichkeitwillens. Verlag Hohe Warte, Franz von Bebenburg, Pähl/Obb. 1959 (1. Auflage 1921)
  8. Müller, Klaus-Jürgen: Generaloberst Ludwig Beck. Eine Biolgraphie. Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2008, 2009
  9. Lindner, August (Büsum): Ludendorff - Widerstandskämpfer im Dritten Reich? Unveröffentlichtes Manuskript in dem Nachlaß des Autors. Bundesarchiv Koblenz und Landesarchiv Schleswig (Mit Briefwechseln des Autors mit den Historikern Walter Hubatsch, S. Kaehler, Egmont Zechlin und W. Foerster.)
  10. Nebelin, Manfred: Erich Ludendorff - ein völkischer Prophet. In: Revue d'Allemagne et des Pays de langue Allemande. Themenheft "Religion, 'religiosités' et politique dans les extrêmes droites allemandes de 1870 à 1933". April/Juni 2000, S. 245-256
  11. Bading, Ingo: Ludendorffs empörte Telegramme an Hindenburg im Jahr 1933 Zur Frage der Echtheit von Ludendorffs Telegramm an Hindenburg vom 1. Februar 1933, 22. August 2013, https://studiengruppe.blogspot.com/2013/08/ludendorffs-emporte-telegramme.html

1 Kommentar:

Ingo Bading hat gesagt…

Dieser Blog hat seit seiner Gründung 2012 und bis 2017 mit dem Bemühen um Vollständigkeit alles zusammen getragen, was rund um seine Thematik - vor allem über das Internet (aber auch sonst) - bekannt geworden ist. Auf dieser Linie sollte weiter gearbeitet werden. Das wird aber vom Bloginhaber selbst mit dem bisherigen Anspruch an Vollständigkeit nicht mehr geleistet werden können. Es sollte aber doch noch andere Menschen geben, die in ähnlicher Weise eine solche Aufgabe für sich sehen. Wir bitten darum, daß sich solche melden.

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