Freitag, 8. März 2024

Gelsenkirchen-Buer - Außenstelle des Dürer-Verlages in Buenos Aires?

Gelsenkirchen-Buer ist eine Stadt am Nordrand des Ruhrgebietes. In ihr haben die Menschen im Frühjahr 1923 in Zusammenhang mit der Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen viele der damals die ganze Nation empörenden Ereignisse unmittelbar vor ihrer Haustür erlebt. Es wird darüber zum Beispiel das folgende berichtet (Gelsenkirchen-Wiki):
Im Januar 1923 besetzen französische Truppen Gelsenkirchen, Buer und Horst. (...)
21.2.1923: (...) Fast täglich kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Bevölkerung und den Besatzungstruppen. In Buer erschlägt ein Hufschmied mit dem Hammer einen französischen Offizier, nachdem ihn dieser mit einer Reitpeitsche mißhandelt hatte.
11.3.1923: In Buer werden zwei französische Offiziere erschossen. Die französischen Behörden verhängen sofort den Ausnahmezustand. Der Bürgermeister wird verhaftet und die Bevölkerung ist den Mißhandlungen der Franzosen ausgesetzt. Am 12. März stellt sich heraus, daß französische Soldaten die Offiziere getötet haben.
2.4.1923: Um die auf Halde lagernde Kohle abzutransportieren, besetzen die Franzosen mit großem militärischem Aufgebot zwei staatliche Zechen in Buer und eine private Zeche in Recklinghausen. Bis zum 11. April werden insgesamt 22 Zechen besetzt.
26.6.1923: In Marl und Buer werden im Zusammenhang mit dem verschärften Belagerungszustand drei Deutsche erschossen. Vorausgegangen war die Erschießung zweier belgischer Wachtposten durch einen Deutschen in der Nähe von Marl.  

Vielleicht war es ein solches Geschehen, das mit dazu beigetragen hat, daß in Gelsenkirchen-Buer auch noch in der Zeit danach Menschen lebten, die sich Gedanken über die Weltenläufe machten, die nicht immer auf der Linie des vorherrschenden Mainstreams lagen.

Von Bagdad nach Gelsenkirchen-Buer

Die seltenen Fotografien eines deutschen Funkoffiziers aus dem Ersten Weltkrieg wurden von Archivaren als geschichtliche Quelle gesichert. Dabei stellen sie auch fest: 
- 1937 ist dieser Anhänger der Philosophie von Mathilde Ludendorff geworden

So lebte der vormalige deutschen Funkoffizier des Ersten Weltkrieges, der Diplomingenieur Ernst Liesching (1882-1965) (BSB) viele Jahre in Gelsenkirchen-Buer. Von ihm sind seltene Fotoaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg überliefert, insbesondere aus Bagdad von der Mesopotamien-Front und von seiner dortigen Zusammenarbeit mit Soldaten der türkischen Armee. Auf seinen Fotografien wird unter anderem auch die bittere Armut deutlich, die damals im Osmanischen Reich herrschte. Und durch solche seltenen und ungewöhnlichen Fotografien entstand ein Interesse auch an seiner sonstigen Biographie (1). 

Für diesen Blog ist Liesching deshalb interessant, weil er 1937 - mit 55 Jahren - aus der protestantischen Kirche ausgetreten ist und Anhänger der Philosophie von Mathilde Ludendorff geworden ist. Er erinnert ein wenig an den vormaligen Funker Wilhelm Knake (1900-1979) (Stgr2015), der sich nach 1945 als rühriger naturwissenschaftsnaher Autor der Ludendorff-Bewegung bemerkbar gemacht hat. Auf einer von ihm aus dem Ersten Weltkrieg erhaltenen Fotografie wirkt Ernst Liesching weich gestimmt und nachdenklich (Abb. 1). Aber vor welchem sonstigen biographischen Hintergrund geschah nun wohl seine Hinwendung zur Philosophie von Mathilde Ludendorff? - Recherchen ergaben, daß Ernst Liesching in Stuttgart geboren worden ist (1):

Sein Vater war ein Enkel des Verlegers, Buch- und Kunsthändlers Samuel Gottlieb Liesching (1786-1864), der in Stuttgart einen Verlag gegründet hatte und sich in der liberalen Bewegung des 19. Jahrhunderts engagierte. Ernst Lieschings Onkel wiederum war der Rechtsanwalt und Politiker Theodor Gottfried Liesching (1865-1922), der von 1901 bis 1918 dem württembergischen Landrat und von 1912 bis 1918 dem Reichstag angehörte. Im November 1918 war er für drei Tage der letzte königlich württembergische Ministerpräsident. Ende 1918 beteiligte sich Theodor G. Liesching an der Gründung der DDP, und von November 1918 bis Februar 1922 bekleidete er das Amt des württembergischen Finanzministers.

Ernst Liesching hat 1901 bis 1905 Maschinenbau an der Technischen Universität Stuttgart, sowie 1906 an der Technischen Hochschule Danzig studiert. Ein solches Studium war damals etwa so fortschrittlich wie heute ein Studium in Informatik. 

1913 wurde sein Sohn in Essen geboren. 

Abb. 1: Dipl.-Ing. Ernst Liesching - Als deutscher Funkoffizier in Bagdad 1916 bis 1918

Am Ersten Weltkrieg hat er dann mit 32 Jahren als Funkoffizier teilgenommen und dabei sind zwei historisch interessante Fotoalben entstanden (1):

Von Herbst 1916 bis Sommer 1918 diente er an der Mesopotamienfront, einem Nebenkriegsschauplatz des Ersten Weltkriegs, wo deutsche Truppen an der Seite des Osmanischen Reiches gegen Großbritannien kämpften. (...) Der Großteil der Einzelaufnahmen - knapp 190 Fotos - stammt von Lieschings eigentlicher Station, aus dem Irak, wo er fast zwei Jahre stationiert war. In Bagdad leitete er die ‚Schwere Funkenstation 4 der Kaiserlich deutschen Funkerabteilung 151‘, die der 6. Türkischen Armee zugeteilt war. Die Station befand sich am Standort des Oberkommandos der 6. Armee und verkehrte zum einen mit den in der Armeefront eingesetzten Funkstationen und zum anderen mit einer Großstation in Konstantinopel. Lieschings Bilder stammen aus Bagdad, Tikrit, Kirkuk, Mossul sowie vom Tigris (El-Humr).

Liesching lebte von 1919 bis 1961 in Gelsenkirchen, bzw. in Gelsenkirchen-Buer. Seiner dortigen Entnazifizierungsakte von 1946 sind die weiteren biographischen Hintergründe zu entnehmen (1):

Er bekleidete von Juli 1919 bis Juni 1931 den Posten des Direktors der Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke Gelsenkirchen. (...) Der vergleichsweise junge Pensionär engagierte sich in der Folge für viele Jahre als ehrenamtlicher Geschäftsführer der Vereinsbezirke Rheinland und Westfalen des Deutschen Vereins von Gas- und Wasserfachmännern.
Von Lieschings privaten Interessen zeugen u. a. die im Fragebogen der Entnazifizierungsakte genannten Mitgliedschaften beim Kegelklub Buer, beim Sauerländischen Gebirgsverein sowie beim Verein für Bodenreform. Außerdem war er ‚Alter Herr‘ der beiden Burschenschaften, denen er als Student in Stuttgart und Danzig angehört hatte. Seit 1907 war er außerdem Mitglied im Verein Deutscher Ingenieure (VDI).
Auch sein Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg findet sich in Lieschings Fragebogen von 1946 wieder. Er war laut eigenen Angaben Mitglied im ‚Bund der Asienkämpfer - Vereinigung der Asienkämpfer, Balkankämpfer und Orientfreunde e. V.‘, einem Veteranenbund des Asien-Korps. Daneben gehörte er der ‚Kameradschaftlichen Vereinigung ehemaliger Angehöriger der Nachrichtentruppen Rheinland und Westfalen‘ an. Laut Lieschings Angaben im Fragebogen erhielt er für seine Einsätze im Ersten Weltkrieg mehrere Auszeichnungen.
Politisch stand Liesching vor 1933 im nationalliberalen Lager: Bei den Reichstagswahlen vom November 1932 und vom März 1933 gibt er im Fragebogen an, die Deutsche Volkspartei (DVP) gewählt zu haben. In der Zeit des Nationalsozialismus tat sich Liesching politisch nicht groß hervor. Zwar trat er 1937 aus der evangelischen Kirche aus, schloß sich der nationalreligiös-völkischen Bewegung von Mathilde Ludendorff (Frau des Generals Erich Ludendorff) an und trat noch 1942 der NSDAP bei. Vom zuständigen Entnazifizierungsausschuß wurde Ernst Liesching 1946 aber als "politisches Kind" bezeichnet und entlastet.

1937 war Ernst Liesching schon 55 Jahre alt. Es wäre sicherlich nicht uninteressant zu erfahren, aufgrund welcher persönlicher Umstände er dazu gekommen ist, aus der evangelischen Kirche auszutreten und sich zur Philosophie von Mathilde Ludendorff zu bekennen. Als Frühpensionierter könnte er Gelegenheit gehabt haben, sich gründlicher mit religiösen und weltanschaulichen Fragen zu beschäftigen, insbesondere solchen Fragen, die sich aus der Nähe zur Naturwissenschaft ergeben. 

Das Bekenntnis könnte auch damit in Zusammenhang stehen, daß es auch in diesen Jahren philosophische Vortragsveranstaltungen der Ludendorff-Bewegung im Rheinland gegeben hat. Wie er sich zur Philosophie von Mathilde Ludendorff nach 1945 gestellt hat, wäre ebenfalls von Interesse.

Hat es Verbindungen zwischen diesem Ernst Liesching und der im folgenden zu erörternden Person gegeben? Darüber wissen wir nichts, wir wollen es auch gar nicht nahelegen. Der gemeinsame Wohnort war nur ein ganz äußerer Beweggrund, beide Personen in einem einzigen Blogartikel zu behandeln.

Von Buenos Aires nach Gelsenkirchen-Buer

Der Verleger Friedrich Adlerhorst

In Gelsenkirchen-Buer lebte nun auch der Verleger Friedrich Adlerhorst (evtl. 1897-1982) (FindGrave). Von Seiten des "Spiegel" ist er im Jahr 1953 als der Ludendorff-Bewegung nahestehend charakterisiert worden. Eine durchaus noch heute lesenswerte, ja, wertvolle Schrift ist 1951 von ihm heraus gegeben worden (2). Diese war dem Bloginhaber schon im Jahr 2011 von Seiten eines älteren Bloglesers zugesandt worden (s. GAj2011). Und diese Schrift hatte dann auf unserem Parallelblog viele Folge-Recherchen ausgelöst, nämlich zu freimaurernahen Autoren wie Ernst Jünger, Hermann Hesse, Friedrich Hielscher und vielen anderen mehr. 

Nachdem wir erst vor wenigen Tagen einmal wieder von einer anderen Blogleserin angeschrieben worden sind genau wegen dieser sehr selten zu findenden Schrift (2), haben wir uns zum ersten mal für den Namen des angegebenen Verlegers interessiert und diesen gegoogelt. Und da finden wir diese Schrift zunächst auch in einer Ernst Jünger-Bibliographie von Karl Otto Paetel von 1953 angeführt (GB). Sie konnte also durchaus auch schon damals von interessierten Menschen wahrgenommen werden. Und wir finden nun außerdem, daß über diesen Verleger im "Spiegel" 1953 unter anderem das folgende berichtet worden ist (Spiegel,2.6.1953), a):

Im April 1952 waren von dem Verleger Friedrich Adlerhorst in Gelsenkirchen-Buer mehrere hundert Drucksachen unter Streifband und in Taschen den Hauptpostämtern in Gelsenkirchen und Buer zur Beförderung übergeben worden. Friedrich Adlerhorst ist alter Ludendorffer, und nach 1945 hat er allerlei rechtsorientierte politische Traktätchen verlegt. Etwa: "Wir Frontsoldaten zur Wiederaufrüstung"; "Dolchstoß oder Legende"; "Offener Brief an den Europäischen Oberbefehlshaber" und einmal auch eine Broschüre "Konrad Adenauer in Vergangenheit und Gegenwart", die im März 1952 nach allerlei eigenartigem Hin und Her "wegen Beleidigung des Herrn Bundeskanzlers" beschlagnahmt worden war (SPIEGEL 18/52), ohne daß der Verfasser der Broschüre bis heute angeklagt worden wäre.

Bei weiterer Recherche läßt sich dieser Verleger nun dem Umfeld des Dürer-Verlages in Buenos Aires zuordnen - was dem "Spiegel" damals gar nicht scheint, wichtig gewesen zu sein. Im Umfeld dieses Verlages sind damals durchaus bedenkenswerte Schriften erschienen, etwa über die bis heute strittigen Hintergründe des Reichstagsbrandes von 1933 (s. GAj2013).

Zwei der im eben gebrachten Zitat genannten Titel stammen von Seiten des Verfassers Hans-Ulrich Rudel (1916-1982) (Wiki) (3, 4), dem vormaligen "Stuka-As" des Zweiten Weltkrieges, und waren ebenfalls ursprünglich im deutschsprachigen Dürer-Verlag in Buenos Aires erschienen. Und so auch die dritte hier genannte Schrift von Seiten des niederländischen Journalisten Willem Sassen (1918-2001) (Wiki) (5), der als "Ghostwriter" von Rudel auch der Verfasser der beiden anderen Schriften gewesen sein könnte.

Merkwürdig daß der "Spiegel" damals auf dieses Umfeld nicht konkreter scheint aufmerksam gemacht zu haben. Vielleicht hatte der genannte Friedrich Adlerhorst die von ihm gebrachten Schriften ohne die eigentlichen Verfassernamen vertrieben (?). Wie auch immer. Adlerhorst scheint in einem Leserbrief auf den auszugsweise zitierten Spiegel-Artikel folgendermaßen geantwortet zu haben (Spiegel, 1953, GB):

Ob der Spiegel-Bericht wahrheitsgemäß ist? "Friedrich Adlerhorst ist alter Ludendorffer" ist allerdings eine hämische Bemerkung. Muß man "Ludendorffer" sein, wenn man die Schriften des Generals gelesen hat? "Mit "rechtsorientierten" Kreisen habe ich nichts zu tun, desgleichen auch nicht mit linksorientierten. Ob "Konrad Adenauer in Vergangenheit und Gegenwart ... 

Die weiteren Passagen dieser Ausschnitte wären noch einmal heraus zu suchen. Insbesondere wäre es einmal interessant zu erfahren, wer sich eigentlich hinter dem Pseudonym des aufmerksam beobachtenden Autors "Michel Dietrich" (2) verbirgt. 

Daß es keinesfalls ein dezidierter Ludendorff-Anhänger war, glaubt man seiner Schrift entnehmen zu können. Immerhin werden aber in der Schrift Wahrnehmungen thematisiert, die recht gut zu den Wahrnehmungen passen, die auch Menschen innerhalb der Ludendorff-Bewegung wichtig waren. 

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  1. Kraus, Eva: Ernst Liesching und seine Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg. Bibliotheksmagazin der Bayr. Staatsbibliothek 2/2022, S. 72ff (pdf)
  2. Dietrich, Michel: Verschwörung gegen Deutschland und Europa. Ein Blick hinter die Kulissen des Welt-"Zaubertheaters" der "Glasperlenspieler". 1. Auflage 1951. Zu beziehen durch F. Adlerhorst, Gelsenkirchen-Buer (100 S.) (Scribd)
  3. Rudel, Hans-Ulrich: Wir Frontsoldaten zur Wiederaufrüstung, Dürer-Verlag, Buenos Aires 1951
  4. Rudel, Hans-Ulrich: Dolchstoß oder Legende? Schriftenreihe zur Gegenwart, Nr. 4, Dürer-Verlag, Buenos Aires 1951
  5. Sluyse, Dr. Dr. Willem: Offener Brief an den Europäischen Oberbefehlshaber, o.J. [1951] (16 S.)
  6. Wulf, Gunnar W.: Konrad Adenauer in Vergangenheit und Gegenwart. Adlerhorst, Gelsenkirchen-Buer 1952 (19 S.) [Schriftenreihe "Der Warner"; 1]

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