Sonntag, 31. August 2014

Mein Großvater - Ein Leben in den Bergen

Jahrgang 1892 - Ein Salzburger Maler

Am 20. und 21. Juli 1936 ging ein Aufschrei durch die internationale Presse von Berlin über Paris, London bis nach New York und Sydney: Ein erneuter Versuch der Erst-Durchsteigung der Eiger-Nordwand war gescheitert. Das "Drama an der Nordwand": Alle vier beteiligten Bergsteiger waren ums Leben gekommen. Ein guter Bergsteigerkamerad meines Großvaters, der Salzburger Edi Rainer, war einer der vier Toten.

Dieses Drama ist in den vielen Jahrzehnten seither vielfach literarisch und filmisch aufgearbeitet worden. Unter anderem mit Schauspielern wie Luis Trenker (1962), Clint Eastwood (1975) oder Benno Führmann (2008) (9-13). Schon im Vorjahr, 1935, hatte der erste Versuch einer Durchsteigung in den Schweizer Alpen ein tödliches Ende gefunden. Seit dieser Zeit heißt eine Stelle in der Nordwand das "Todesbiwak".

Abb. 1: Ölgemälde meines Großvaters Wilhelm Schaufler (1892-1950)

Vom 1. bis 16. August 1936 sollten die Olympischen Sommerspiele in Berlin stattfinden. Für die Erstdurchsteiger der Eiger Nordwand war von Adolf Hitler eine Goldmedaille ausgesetzt worden. Die politischen Zusammenhängen, in denen sich dieses Drama abspielte, werden folgendermaßen umrissen (Wiki):

Der deutsche Botschafter in Österreich, Franz von Papen, unterzeichnete am 11. Juli 1936 das sogenannte Juli-Abkommen mit Österreich, das von Deutschland als Vorstufe zum Anschluß Österreichs gesehen wurde. Die deutsche Propaganda nahm mit Freude die Nachricht auf, daß am Fuß des Eigers Seilschaften aus Deutschland und Österreich darauf warteten, in die Wand einsteigen zu können. Ein gemeinsamer Aufstieg und Gipfelsieg wäre ein willkommenes Symbol auch für einen Zusammenschluß auf politischer Ebene gewesen.

Bei den vier Bergsteigern handelte es sich um:

  • Toni Kurz aus Berchtesgaden, 23 Jahre alt und
  • Andreas Hinterstoißer aus Bad Reichenhall, 21 Jahre alt. 

Diese beiden leisteten damals als Gebirgsjäger Dienst in Bad Reichenhall. Außerdem handelte es sich um die beiden Österreicher 

  • Willy Angerer, 24 Jahre alt und 
  • Edi (Eduard) Rainer, 27 Jahre alt.

Mein Großvater, der damals in Zell am See lebte, hob sich Zeitungsberichte über diese Tragödie auf.

Abb. 2: Edi Rainer links, Willy Angerer rechts

Und wenn man das bescheidene, zurückgenommene Gesicht von Edi Rainer auf einem überlieferten Foto sieht (Abb. 2), dann kann man sich schon denken, daß sich er und mein Großvater gut verstanden haben. Außerdem wird einem dabei schon auch klar, daß die Darstellung dieser beiden Menschen in dem Benno Führmann-Film aus dem Jahr 2008 mit der Wirklichkeit vergleichsweise wenig zu tun haben wird. In einem von meinem Großvater aufgehobenen Zeitungsartikel vom 24. Juli 1936 ("Nr. 168", wohl aus den "Salzburger Nachrichten" oder ähnlich) wird das Schicksal von Edi Rainer ausführlich behandelt. Er war laut dieses Berichtes

ein Salzburger, der vor etwa zwei Jahren nach Deutschland geflüchtet ist. Der 26jährige Eduard Rainer, Handelsangestellter in Salzburg, galt allgemein als ein vorzüglicher Alpinist und Skiläufer. Es war für seine hochachtbaren Eltern ein schwerer Schlag, als der Sohn gleich vielen anderen den Lockungen der nationalsozialistischen Politik zum Opfer fiel und sich verleiten ließ, sogar "aktive Politik" zu machen.
Aus diesen Worten spürt man heraus, daß der Verfasser derselben auf Seiten der austrofaschistischen Regierung Österreichs stand und aus deren Haltung heraus urteilte. Rainer wurde, wie weiter berichtet wird, verhaftet. Während eines Krankenhausaufenthaltes konnte er aber mit Hilfe eines Komplizen nach Deutschland fliehen, was "damals einiges Aufsehen erregt" hatte, so der Bericht:
Rainer wurde wie alle seine Leidensgenossen in die Legion eingereiht.
Mit "Legion" ist die "Österreichische Legion" gemeint (Wiki):
Eine ab 1933 aufgestellte paramilitärische Einheit, die sich aus ins Deutsche Reich geflüchteten österreichischen Nationalsozialisten rekrutierte. Ihre Mitglieder, überwiegend SA-Männer, wurden zunächst in verschiedenen Lagern Bayerns militärisch ausgebildet und bewaffnet und waren für einen eventuellen deutschen Einmarsch in Österreich vorgesehen.
Nach dem gescheiterten Putsch gegen Dollfuß im Juli 1934 traf diese Legion aber den Zorn Hitlers, so heißt es, aufgrund dessen sie ... (Wiki)
... im August 1934 ihre gesamten Waffenbestände (10.300 Gewehre und Karabiner, etwa 340 MG, 1.300.000 Schuss Munition) an die Reichswehr abliefern mußte und von ihren Standorten nahe der österreichischen Grenze abgezogen und in Lager im Norden des Reiches verlegt wurde.
So unter anderem nach Bocholt in Westfalen (s. Marius Lange). Vielleicht kann eine nähere Beschäftigung mit der Geschichte dieser "österreichischen Legion" (14) auch aufklären, welche Motive diese beiden österreichischen Bergsteiger leiteten, ob sie vielleicht sogar einen offiziellen oder halboffiziellen Auftrag hatten. (So wird es auch in der Verfilmung angedeutet, allerdings nur sehr "diffus".) Die Mutter von Eduard Rainer hatte - nach dem oben zitierten Zeitungsbericht - gerade erst eine Ausreisegenehmigung erhalten, um ihren Sohn in Deutschland besuchen zu können. Womöglich war diese Genehmigung schon in Ausblick auf einen erwarteten Erfolg an der Eiger-Nordwand erteilt worden? In dem Zeitungsbericht heißt es weiter über Edi Rainer:
Die Aussöhnung mit Deutschland mag wohl seine letzten Lebenstage mit einiger Hoffnung erfüllt haben, daß es im Laufe der Zeit wieder ermöglicht sein würde, Heimat und Eltern zu sehen.

Wenn man jedenfalls weiß, daß ein so bescheidener und zurückhaltender Mensch wie mein Großvater mit Edi Rainer befreundet war, bekommt man gleich einen ganz anderen Blick auf dieses damalige "legendäre" Geschehen in der Eiger-Nordwand. Weder nach der Fotografie von Edi Rainer, noch nach dem Charakter meines Großvaters kann ich mir denken, daß es sich bei Edi Rainer auch nur in irgendeiner Weise um einen typischen "SA-Rabauken" gehandelt hat.

Das Drama an der Eiger-Nordwand (1936)

Die vier Bergsteiger müssen sehr schlichte, einfache Menschen gewesen, wahrscheinlich gar nicht geeignet als Objekte "spektakulärer" Verfilmungen, wie sie seither erschienen sind (Wiki):

Im Juli 1936 befanden sich die Deutschen Toni Kurz und Andreas Hinterstoißer sowie die Österreicher Willy Angerer und Edi Rainer in Wartestellung unterhalb der Nordwand. Sie stiegen am 18. Juli, zunächst als konkurrierende Seilschaften, auf der gleichen Route in die Wand ein. (...) In der Wand schlossen sich die Seilschaften zusammen. (...) Nach einem gemeinsamen Biwak am Rande des zweiten Eisfeldes setzten sie den Aufstieg fort, kamen aber nur 200 Höhenmeter weiter. Dies bedeutete ein weiteres Biwak. Am folgenden Tag kamen sie weiterhin nur langsam voran und erreichten, gebremst durch den verletzten Angerer, das Todesbiwak. Das Quartett beschloß nun, gemeinsam abzusteigen. In der nächsten Biwaknacht kam es zu einem Wettersturz. Als sie auf dem Rückweg wieder zum Quergang gelangten, hatten die Felsen einen Eisüberzug, und damit war ihnen der Weg abgeschnitten. Einzige Möglichkeit blieb das direkte Abseilen. Sie erreichten eine Stelle oberhalb eines Stollenlochs der Jungfraubahn, wo sie vom Bahnwärter entdeckt wurden. Kurze Zeit darauf riß eine Lawine bis auf Toni Kurz alle Bergsteiger am 21. Juli in die Tiefe.
Andreas Hinterstoißer stürzte bis zum Fuß der Wand in den Tod. Toni Kurz und Willy Angerer waren zu jenem Zeitpunkt von Edi Rainer durch das Seil gesichert worden. Durch die Wucht ihres Sturzes wurde Edi Rainer vom Seil nach oben bis an den Haken gegen eine Felsspitze geschleudert, wobei er einen starken Schlag gegen das Zwerchfell erhielt. Eingeklemmt und bewegungsfähig quälte er sich wohl noch eine Stunde lang, bevor er starb. Willy Angerer wurde durch den Sturz gegen die Wand geschleudert und hing tot im Seil unterhalb von Toni Kurz, der die Lawine als einziger überlebte. Aber auch Toni Kurz konnte nicht gerettet werden:
Wegen der schlechten Bedingungen in der Wand mißlangen alle Rettungsversuche.
Die Rettungsmannschaft der Schweizer Bergwacht brachte sich trotz der flehentlicher Hilferufe von Toni Kurz über Nacht in Sicherheit. Kurz mußte die ganze Nacht über allein und bei Minus-Graden am Seil hängen - über sich und weiter unter sich je einen Toten am Seil. Über den nächsten Vormittag heißt es:
Zuletzt bekam der geschwächte Kurz beim Abseilen den Knoten eines zusammengeknüpften Seils nicht durch seinen Karabiner, so daß er wenige Meter über den Rettern hängend starb.

Was für ein Geschehen.

Abb. 3: Mönchsbergstiege in Salzburg - In diesem Haus ist mein Großvater aufgewachsen (Aufnahme aus dem Jahr 1981)

Kein Wunder, daß dieses Drama viele und kontroverse öffentliche und interne Erörterungen im Gefolge hatte. Das ist ja noch häufig davor und später bei schweren Bergunglücken der Fall gewesen. Man denke etwa an den Tod des Bruders von Reinhold Messner.

Von den sieben Kindern meines Großvaters ist fast allen eine große Liebe zu den Bergen und zum Bergsteigen in die Wiege gelegt worden, so wie mein Großvater selbst sie als Salzburger in die Wiege gelegt bekommen hatte. Aber vielleicht auch jene Spur Vorsicht, die sie solche schweren Bergunglücke vermeiden ließ.

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Mein Großvater

Die Skizzierung dieses Geschehens sollte als Einleitung dienen. Nun zu meinem Großvater selbst, Wilhelm Leonhard Oswald Schaufler (1892-1950). Nachdem hier auf dem Blog schon mein Opa väterlicherseits behandelt worden ist - ein ganz anderes Leben im Havelland, dem Herzland Preußens (Studgr2012) - bietet es sich an, im vorliegenden Beitrag die Familienalben und -erinnerungen weiter zu durchforsten und ähnlich auch meinen Großvater mütterlicherseits zu behandeln (s.a.: 1). Beide Großväter lebten 700 Kilometer voneinander entfernt in sehr unterschiedlichen Lebenszusammenhängen und wußten nichts voneinander.

Abb. 4: Im "Meldungsbuch des außerordentlichen Hörers Wilhelm Schaufler" an der "Universität zu Wien" (Oktober 1920 )

In diesem Beitrag werden Fotos aus Familienalben gebracht zusammen mit einer kleinen Auswahl jener Landschaftsbilder, die mein Großvater gemalt hat. Diese Bilder hängen noch heute in den Wohnungen seiner Kinder und Enkelkinder und prägen den Stimmungsgehalt derselben mit. Dazwischen eingestreut wird über das berichtet, was über sein Leben in den geschichtlichen Verwicklungen seiner Zeit noch in Erfahrung zu bringen ist. Wie mit dem eingangs gebrachten Bezug zur Eiger-Nordwand finden sich, wie wir sehen werden, in diesem Leben immer einmal wieder Bezüge zu allgemeineren zeitgeschichtlichen Geschehnissen.

Abb. 5: Die Hochzeit meiner Großeltern in Tamsweg im Lungau am 6. Mai 1938 - Knapp zwei Monate nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938

Mein Großvater wurde in Salzburg geboren und ist dort zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder Alfred bei seinen Großeltern aufgewachsen. Denn ihr Vater ist früh gestorben. Ursprünglich waren die Schauflers eine Bauernfamilie aus der Nähe von Sankt Pölten. Der Vater meines Großvaters sollte zum Priester geweiht werden, wurde aber Berufsoffizier (Stgen2019), was ihm die Heirat mit einer Adligen ermöglichte.

Die Großeltern der beiden Brüder mütterlicherseits stammten nämlich aus der vornehmen, eigentlich italienischen Adelsfamilie der Nobile Cicogna (Wiki). Diese hatte Ende des 16. Jahrhunderts sogar den 88. Dogen von Venedig (Wiki) gestellt. Aus ihr sind bis ins 20. Jahrhundert viele höhere Beamte der österreichisch-ungarischen Monarchie hervorgegangen. Die Großeltern besaßen in Salzburg ein Haus an der Mönchsbergstiege, wo sie zusammen mit der unverheirateten Tante Olga lebten. Die Mutter meines Großvaters war 1866 "im Kanonendonner von Custozza" (Wiki) zur Welt gekommen, wie es in der Familienüberlieferung heißt.

Salzburg war natürlich eine Stadt, in der rundum die Berge zum Bergsteigen und -klettern nur so auffordern. Die Kindheitserinnerungen des Salzburger Schriftstellers Karl Springenschmid (1897-1981) (Wiki), der fünf Jahre jünger war als mein Großvater, können davon einen Eindruck vermitteln. Wie die Biographie Springenschmids (2) überhaupt manche Parallelen zu der meines Großvaters aufweist, etwa auch was die spätere Anteilnahme an der völkischen Bewegung der Zwischenkriegszeit betrifft, sowie die Nähe zum Nationalsozialismus in dessen Verbotszeit in Österreich. Und so wie Karl Springenschmid in seiner "Waldgänger-Zeit" nach 1945 die Erfahrungen des österreichischen Klerikalfaschismus, des Dritten Reiches und der Kriegszeit verarbeitete, so hatte auch mein Großvater in anderer Weise nach dem Krieg viel zu verarbeiten. Beide suchten dazu Zuflucht in den Bergen und in künstlerischer Betätigung. (Daß mein Großvater Springenschmid - zumindest als Schriftsteller - kannte, ist allerdings nicht überliefert.)

Abb. 6: Mein Großvater beim Malen, 1930er Jahre

Von Oktober 1911 bis Juli 1913 studierte mein Großvater zunächst vier Semester an der Technischen Hochschule in Wien. Am 1. September 1913 hat er seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger beim Infanterie-Regiment 75 in Salzburg angetreten. Dieses Regiment bestand - laut Internetangaben - zu einem hohen Anteil aus Tschechen. (Von diesen haben im Kriegsjahr 1917 viele die Front zu den Russen gewechselt, sind also desertiert.) Am 1. April 1914 war mein Großvater zum Gefreiten befördert worden und im August 1914 hätte seine Militärzeit beendet sein sollen und er wäre vermutlich an die Universität nach Wien zurück gekehrt .... 

Abb. 7: Fertig zum Abmarsch: Die dritte Ersatzkompagnie des Salzburger Rainer-Regiments im Jahr 1914 (Als Beispiel) (Rainer-Reg.)

Am 28. Juni 1914 wird der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet. Plötzlich geht es Schlag auf Schlag: Am 24. Juli erklärt Rußland seine Mobilmachung. Am 25. Juli Serbien. Am 28. Juli erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Am 31. Juli erklärt Deutschland den "Zustand Drohender Kriegsgefahr". Am 1. August gibt es den Mobilmachungsbefehl. Ebenso Frankreich.

Verletzt in der Schlacht nördlich von Lemberg (28. August 1914)

22 Jahre ist mein Großvater alt. Laut seines "Entlassungsscheines zugleich Kriegsdienstbestätigung" (aus dem Jahr 1919) und seines "Hauptgrundbuchblattes" (1916) endete am 8. August 1914 seine Ausbildung. Am 9. August folgte - sicherlich per Bahn - die Abfahrt an die russische Front. Abschied von den Mutter und Großeltern am Bahnsteig (so darf vermutet werden).

Abb. 8: Zell am See, Aquarell von Wilhelm L.O. Schaufler (1892-1950)

Für den Zeitraum vom 9. August bis zum 3. September heißt es in den Dokumenten: "An der russischen Front". Die Zeitungen melden: Vormarsch der österreichisch-ungarischen Armee westlich von Lemberg Richtung Lublin. Marschieren, Einquartierung, Marschieren, Rast, Marschieren, fertig machen zum Essenfassen, Marschieren, Hören des Donnergrollens der Front, Marschieren, Einrücken bei Nacht in die vordersten Linien der Front, fertig machen zum Sturm. Rechts und links Gebete der gläubigen Menschen. Andere mögen durch grobe Witze ihrer inneren Spannung Luft machen. Schließlich: "Auf Befehl, Sprung auf, Marsch, Marsch, Sturmlauf, Hurra!!!" ... So geht es an der galizischen Front. Zunächst gibt es nur Siege. Vom 22. bis 25. August: Österreichischer Sieg bei Kraśnik, vom 26. bis 31. August: Österreichischer Sieg bei und Komarów (Wiki). Und mitten in diesen - aber sehr verlustreichen - Siegeslauf hinein erhält mein Großvater am 28. August 1914 - in der "Schlacht von Komarów" (Wiki) - einen Schuß durch den Fuß: "verwundet durch schweren Fußschuß"

Aus dem Nachhinein kann gesagt werden: So viel war in diesen wenigen ersten Tagen des Krieges noch gar nicht geschehen. Der Krieg war damals noch ganz frisch. Diese Schlachten waren nur eine Art "Auftakt". Sie geschehen in denselben Tagen, in denen - weiter oben im Norden, in Ostpreußen - die Schlacht von Tannenberg siegreich für die Deutschen geführt wird (26. bis 30. August 1914).

Wie mein Großvater diese Ereignisse erlebte, hat meine Großmutter, die neunzehn Jahre jünger war als mein Großvater und ihn 1933 kennen lernte, in ihren Lebenserinnerungen folgendermaßen dargestellt (3, S. 24):

Sehr beeindruckend waren für mich die Erzählungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, den er nach seiner einjährig-freiwilligen Zeit im Jahre 1913 alle vier Jahre bis zum Kriegsende 1918 mitgemacht hatte (als Leutnant). Zu Kriegsbeginn kam er nach Galizien, wo die Soldaten anfangs auf offenem Feld gegen den Feind (Russen) anrennen mußten. Links und rechts von ihm gab es Tausende von Gefallenen. Ihn traf eine Kugel im rechten Fußgelenk. Am Verbandsplatz wollten sie ihm den Fuß amputieren. Als Offizier ...
... Zu dieser Zeit wird er wohl - laut der genannten Unterlagen - noch Gefreiter, aber vermutlich als Einjährig-Freiwilliger Offiziersanwärter gewesen sein ....
... konnte er sich dagegen wehren und wurde dann mit dem alten Verband und hohem Fieber ins rückwärts gelegene Krankenhaus befördert. ....

Auf dem Salzburg-Wiki lesen wir (Wiki):

In der Liste der Nachrichten über Verwundete und Verletzte vom 21. September 1914 waren bereits zahlreiche Soldaten und Offiziere zu finden.

Es ist das - wie man im Internet sehen kann - eine sehr lange Liste, alphabetisch geordnet. Aber Wilhelm Schaufler ist dort nicht aufgeführt. 

Über diese Anfangsschlachten des Ersten Weltkrieges zwischen Rußland und Österreich-Ungarn in Galizien gibt es viele Erlebnisberichte, durch die man sich ein Bild machen kann. Auch der österreichische Maler Oskar Kokoschka hat, wie er in seinen Lebenserinnerungen berichtet, als Kürassier und Schwerverwunderter Erfahrungen gemacht, die nicht ganz unähnlich gewesen sein werden denen meines Großvaters. 

Abb. 9: 1940/41 - Wilhelm Schaufler mit seinem ältesten Sohn in Zell am See (fotografiert vom Wiener Schwiegervater, der die Fotos selbst entwickelte)

Zu den Kampfhandlungen in Galizien war es gekommen dadurch, daß die k.u.k-Armee auf breiter Front über die Landesgrenze hinweg offensiv gegen das 200 Kilometer nördlich von Lemberg gelegene Lublin vorgegangen war. Tomaszow (Wiki) liegt knapp hundert Kilometer nördlich von Lemberg (G-Maps). Hier kämpfte der linke Flügel der österreichischen Armee. Befehlshaber war General Viktor Dankl (Wiki):

Während des Ersten Weltkriegs fanden Ende August 1914 während der Schlacht von Komarów in der Umgebung des Ortes schwere Gefechte zwischen russischen und österreichisch-ungarischen Truppen statt. 

Während mein Großvater in Lazarette zurück gefahren wurde, sind die Kämpfe an der Front dann nicht mehr ganz so glücklich weiter gegangen wie zuvor (Wiki):

Trotz der österreichischen Siege bei Kraśnik (22.-25. August) und Komarów (26.-31. August) und anfänglich aussichtsreichem Vordringen der k.u.k. Truppen südlich Lublin wendete sich schon Ende August das Blatt. Nach mehreren Niederlagen vor allem auf dem rechten Flügel (Schlacht bei Złoczów am 26./27. August, Schlacht bei Brzeżany am 26. August) und dem Verlust Lembergs (30. August) befahl Conrad seinen bereits schwer angeschlagenen Armeen eine Gegenoffensive, die in der Schlacht bei Lemberg (7.-11. September) scheiterte. Am 11. September mußte das österreichisch-ungarische Oberkommando den allgemeinen Rückzug befehlen. Dieser war stellenweise von Auflösungserscheinungen begleitet; etwa 100.000 Soldaten gaben sich gefangen, erst östlich von Krakau und im Vorfeld der Karpaten kam die Absetzbewegung - begünstigt durch das zögerliche Nachrücken der ebenfalls stark geschwächten russischen Truppen - zum Stehen. Die Festung Przemyśl, in der mehrere Divisionen eingeschlossen waren, lag nun weit im russischen Hinterland (siehe Belagerung von Przemyśl). Für dieses Desaster - neben den Gefangenen wurden 322.000 Tote und Verwundete verzeichnet, zudem waren aufgrund des fluchtartigen Abrückens große Mengen Kriegsmaterial und etwa 1.000 dringend benötigte Lokomotiven verlorengegangen - machten die Wiener Regierung und das Armeeoberkommando in erster Linie die "arglistige Täuschung" durch ihren Bundesgenossen verantwortlich.

Man drohte von österreichischer Seite aus mit einem Sonderfrieden. In dieser Situation wurde Ludendorff (mitsamt seinem "Militär-Darsteller" Hindenburg) zur Verteidigung Schlesiens nach Breslau beordert. Schon am 28. September 1914 begannen von Schlesien aus der deutsche Vormarsch auf Warschau. Dieser entlastete die k.u.k.-Armee im Süden, die dadurch ebenfalls wieder offensiv werden konnte. Es wurde ein "Oberbebefehlshaber Ost" unter Ludendorff (mitsamt Hindenburg) gebildet, der glaubte, kriegsentscheidende Schläge gegen die russische Armee in Polen führen zu können. Dies konnte aber mangels Truppenzuführung aus dem Westen nicht umgesetzt werden. Damit waren schwere Auseinandersetzungen mit der Obersten Heeresleitung unter Falkenhayn verbunden (Wiki).

Beim Ersatzbataillon der "Rainer" in Salzburg (1915-1917)

Wie gesagt, war der Maler Oskar Kokoschka ebenfalls schwer verwundet worden und hat dann lange Zeit im Spital verbringen müssen. Er ist für die Heilbehandlung schließlich während des Krieges sogar zu einem Arzt nach Schweden geschickt worden. Auch die Verwundung meines Großvaters brauchte mindestens neun Monate, um auszuheilen. Meine Großmutter schreibt:

Lange mußte er mit Krücken gehen und nur den eisern durchgehaltenen Bewegungsübungen in Salzburg (er ging mit Krücken auf den Untersberg) ist es zu verdanken, daß er so weit wiederhergestellt wurde, daß er später seine Klettertouren (Watzmann Ostwand, Dachstein, Schweiz usw.) mit etwas versteiftem Knöchel machen konnte.

Er verbrachte diese Zeit im "Spital" in Wien bzw. in der Rekonvaleszenz-Abteilung in Neuhaus in Südböhmen. In der nachfolgenden Zeit wurde auch mein Großvater ein "Rainer", ein Angehöriger des traditionsreichen Salzburger Regimentes. In einem handgeschriebenen Lebenslauf schreibt er:

Mit 16. 3. 1915 wurde ich zum k.u.k. IR Nr. 59 transferiert und rückte am 1. 4. 1915 zum Ersatzbataillon nach Salzburg ein.

Es war dies das Salzburger "Hausregiment", das damals landesweit bekannte "k.u.k. Infanterieregiment Erzherzog Rainer Nr. 59", kurz nur "die Rainer" genannt (Salzburg-Wiki). Am 23. Mai 1915 erklärte überraschend Italien Österreich-Ungarn den Krieg und fiel damit den "Mittelmächten", mit denen es zuvor im Dreibund verbündet war, in den Rücken. Österreich-Ungarn hatte so gut wie keine Truppen, die es an die neue italienische Gebirgsfront schicken konnte. Alle einheimischen Regimenter waren an der Ostfront eingesetzt. Aus diesem Anlaß gab es damals erneut viele Freiwilligen-Meldungen. In seinem Lebenslauf schreibt mein Großvater: 

Bei der Kriegserklärung von Italien meldete ich mich, kaum schon marschfähig, freiwillig ins Feld nach Südtirol, kam aber vom 9.7. bis 9.9. an die russische Front. Durch Überanstrengung verschlechterte sich mein verwundeter Fuß, daß ich vom 10.9. bis 8.12. ins Spital und anschließend in die Reserveabteilung des IR 59 kommen mußte.

Im "Hauptgrundblatt" heißt es dazu am 20. Dezember 1915:

Als tauglich zu Hilfsdiensten als Schreiber zu verwenden (...). Das Gebrechen ist durch die (...) Militärdienstleistung herbeigeführt worden.

Ein Jahr lang war er dann beim Ersatzbataillon 59 bzw. beim Stationskommando Salzburg tätig.

Am 11. Februar 1916 wurde er hierbei zum "Zugführer", am 1. März zum "Kadett", am 7. September zum "Fähnrich der Reserve" und am 14. November zum "Leutnant im Ruhestand" befördert.

Abb. 9a: Als Fähnrich, 1916

Dabei heißt es wiederholt:

Als zum Truppendienste im Heer untauglich zu Lokaldiensten geeignet. - Als felddienstuntauglich zu Ausbildungsdiensten geeignet. - Als zum Truppendienste im Heere untauglich zu Lokal- und zu Ausbildungs- und Fliegerdiensten geeignet.

Ab dem 1. Januar 1917 besuchte er für acht Monate die Reserve-Offiziers-Schule in Stejr-Freistadt. 

Abb. 10: Zell am See - Aquarell von Wilhelm L.O. Schaufler (1892-1950)

Nach weiteren zwei Monaten beim Ersatzbataillon in Salzburg gehörte er dann für fast ein Jahr - offenbar - zu den wachhabenden Offizieren des Kriegsgefangenenlagers Mauthhausen (Wiki).

Leutnant in Montenegro (1917/18)

Dann heißt es in seinen Papieren:

3. 9.17 - 1.11.18 russ. Kgf. Komp. 218 AZA 54a in Montenegro

Montenegro (Wiki) liegt nördlich von Albanien, westlich des Kosovo und südlich von Bosnien und Serbien. Vor 1914 war Montenegro ein unabhängiger Staat und mit Serbien verbündet. Montenegro ist ein kleines, sehr gebirgiges Land (Wiki):

Die unzugänglichen Hochgebirge werden durch steile abweisende Canyons zerteilt. Darunter gilt die Tara-Schlucht als tiefste Schlucht Europas.

Anfang 1916 hat Österreich-Ungarn Montenegro in einem kurzen Feldzug erobert. Montenegro war dann für zwei Jahre von der k.u.k.-Armee besetzt. Charakteristisch für die beiden Jahre Besatzungszeit war das sogenannte "Bandenwesen" montenegrinischer Freischerlern in den Bergen, die immer einmal wieder das Land unsicher machten und Überfälle ausführten (s. Abb. 11) (Wiki):

Für die Beherrschung des gebirgigen, unwegsamen Landes benötigte die k.u.k. Militärverwaltung mit über 40.000 Mann mehr als doppelt so viel Besatzungstruppen wie für Serbien. Zudem gab es ab Anfang 1918 eine Guerilla-Bewegung.

2019 ist ein neues Buch über diese Besatzungszeit erschienen (Abb. 11). 

Abb. 11: Der k.u.k.-Militärgouverneur von Montenegro Clam-Martinic und sein Mitarbeiter Schmidt-Zabierow in der Bildmitte umgeben von einer montenegrinischen Sicherungseskorte am 27. August 1918 am Kapetanovo Jezero rastend - nur wenig später kam es zu einem Feuergefecht (Umschlagbild von Brendel 2019).

Über die Besatzungstruppen heißt es darin (Brendel 2019, S. 105):

Dazu kamen 2.000 in Montenegro eingesetzte Kriegsgefangene, vor allem aus dem Russischen Kaiserreich, und 12.000 montenegrinische Zivilarbeiter. Über die teils freiwilligen, teils zwangsverpflichteten Zivilarbeiter gab es von Anfang ...

(Hier wie auch weiterhin zunächst nur als Google-Bücher-"Schnipsel" zitiert.) Zu den Bewachungstruppen dieser 2.000 russischen Kriegsgefangenen dürfte Leutnant Wilhelm Schaufler gehört haben. Welche Verhältnisse lernte er in Montenegro kennen? Was erlebte er? Über die k.u.k.-Militärverwaltung von Montenegro lesen wir (Brendel, S. 189):

So wurde die Februarrevolution im Russischen Kaiserreich nur am Rande zur Kenntnis genommen, obwohl sich dort etwa 2000 russische Kriegegefangene befanden. Noch erstaunlicher ist, daß der Toplica-Aufstand, der im Februar und März 1917 ...

... in Südserbien gegen die bulgarische Bestatzungsmacht ausbrach, offenbar nur wenige Beachtung von Seiten der Militärverwaltung von Montenegro fand. Vom 10. Juli 1917 bis 3. November 1918 war Militärgouverneur von Montenegro Heinrich Graf Clam-Martinic (s. Abb. 9a) (Brendel S. 215):

Die Lage in Clam-Martinic' neuem Zuständigkeitsbereich war alles andere als zufriedenstellend, da nach wie vor montenegrinische Banden - denen sich teilweise österreichisch-ungarische Deserteure und entflohene russische Kriegsgefangene angeschlossen hatten - in den abgelegenen Teilen Montenegros aktiv waren.

Es kam immer wieder zu Überfällen, so daß Kutschen und Autos nur noch mit bewaffneter Bedeckung unterwegs sein durften (Brendel, S. 218):

Mangles geeigneter verfügbarer Kampftruppen und Gendarmen wurden Trainsoldaten als Begleitmannschaften eingesetzt. (...) Die zunehmenden Sicherheitsprobleme in Montenegro veranlaßten Militärgouverneur Clam-Martinic dazu, "allgemein in Erinnerung zu bringen, daß wir in Montenegro im Feindesland leben und daher die gebotenen Vorsichtsmaßregeln nicht außeracht gelassen werden dürfen".

So in einer Verordnung vom 11. August 1917. Der Militärgouverneur verhandelte mit den aufständischen Banden und machte ihnen Amnestie-Versprechungen. Diese "weiche" Besatzungspolitik konnte er sich nur aufgrund seiner persönlichen Nähe zum Kaiser Karl erlauben. Als wichtigster politischer Führer der Aufsändischen galt der vormalige montenegrinische Kriegsminister Radomir Vešović (1871-1938) (Wiki). Vom Ersten Balkankrieg her genoß er aufgrund seiner damaligen militärischen Erfolge viel Ansehen im Land. Er hatte schon 1916 einen Aufstand geplant, der entdeckt worden war. Er war von einer österreichischen Patroille gefangene genommen worden, konnte ihr aber gemeinsam mit seinem Bruder entfliehen, wobei ein österreichischer Leutnant ums Leben kam. Er schloß sich den Tschetnik-Guerilla-Banden in den Bergen des nördlichen Montenegro an. Im Januar 1918 nahm er das Amnestie-Versprechen an und begab sich in österreichische Internierung. Aber (Brendel, S. 257):

Ende Januar 1918 war das Scheitern von Clam-Martinic' Plan, mithilfe des ehemaligen Kriegsministers Vešović die Bandenbewegung im Kreis Niksic in den Griff zu bekommen, nicht mehr zu leugnen.

Und (Brendel, S. 364f):

Clam-Martinic war über den Ausgang der Vešović-Affäre letztlich bitter enttäuscht, seine politischen Lösungsansätze für das Bandenproblem waren gescheitert. Insbesondere führte die Waffenstreckung der Symbolfigur Vešovićs nicht (...) zum Ende der Aufstansbewegung, sondern war vielmehr das Fanal zur Eskalation. (...) Mehr als 90 Prozent aller Zwischenfälle und Verluste beider Seiten während der Besatzungszeit sollten sich erst im Jahre 1918 ereignen.

Also just in der Zeit, in der Leutnant Schaufler dort Dienst leistete. Ende Oktober dann (Brendel, S. 355) ...

... war der geeignete Moment für die befürchteten "Erhebungen" gekommen: alle von den Besatzungstruppen teils fluchtartig geräumten Gegenden wurden von Banden besetzt. (...) Am 29. Oktober 1918 meuterten in Montenegro rumänischsprachige Truppen der österreichisch-ungerarischen Armee, am folgenden Tag liefen zum letzten mal kaiserlich-deutsche U-Bote aus der Bucht von Kotor aus.

Das Buch von Brendel bezieht sich im Quellenteil auch auf einen (Brendel, S. 373):

"Bericht über die im April 1918 stattgefundene Besichtigung der Kriegsgefanenen-Lager in Neszider, Boldogasony und Nagymegyer, der Internierten-Stationen in Karlstein und Grossau und der Konfiniertenstation in ...."

Hier gäbe es sicherlich noch mancherlei Anknüpfungspunkte in der Literatur, um die Verhältnisse besser kennen zu lernen, in denen sich der Leutnant Schaufler damals bewegte. Meine Großmutter berichtet (3, S. 24f):

Wieder eingerückt, kam er nach Bosnien und Herzegowina, Montenegro (das damals zu Österreich gehörte). Die Soldaten waren dort sehr durch die Partisanen gefährdet und durften sich nicht vom Zuge entfernen. Als Offizier hatte er jedoch die Möglichkeit, sich nicht an diese Anordnung zu halten. Zum Aquarellieren suchte er sich oft malerische Plätze aus. So bemerkte er eines Tages plötzlich einen Schatten auf dem Aquarellpapier. Hinter ihm stand ein Partisan mit einem Gewehr! Er malte ruhig weiter und der Schatten verschwand nach einiger Zeit. - Er mußte oft in Lebensgefahr gewesen sein.
Und (3, S. 24f):
Als der Rückzug im Oktober und November 1918 stattfand, war die Truppe bereits von der Hauptarmee abgetrennt, in einer Schlucht eingeschlossen und von Partisaninnen bewacht. In der Nacht konnten sie sich durch Überfall auf die Partisanen retten. Halbverhungert konnten sie sich in Gewaltmärschen zur Hauptarmee durchschlagen und fanden dort nur mehr als Proviant bereits mit Petroleum übergossene Brotlaibe vor, die dem Feind nicht in die Hände fallen sollten. Solch einen Brotlaib hat er auf einen Sitz verzehrt.

Und (3, S. 28):

Damals mußte er leider auch sein Pferd mit dem ganzen Gepäck und allen drei Skizzenbüchern aus dem Krieg in eine Schlucht stürzen. Beim Rückzug haben nur mein Mann und ein zweiter deutsch-österreichischer Offizier eintausend Soldaten nach Wien zurückgebracht. Die tschechischen, ungarischen, italienischen Offiziere usw. der k.u.k. Monarchie ließen damals die Truppen im Stich und kehrten heim in ihre Heimatländer. Die Ungarn wollten anfangs keine Eisenbahnwaggons für die Rückfahrt nach Wien und Verpflegung für die heimkehrenden Soldaten stellen. In Wien angekommen, war dort schon die Revolution ausgebrochen, die Monarchie abgeschafft und den Soldaten wurden die Achselstücke von den Schultern gerissen.

Es wird sich um eintausend deutschsprachige Besatzungssoldaten gehandelt haben, vielleicht in der Mehrheit ebenfalls dem Rainer-Regiment zugehörig. Es wird deutlich, was für ein irres und wirres Geschehen damals zu durchleben war. Es war das nichts Geringeres als der Zusammenbruch einer Welt, in diesem Fall der österreichisch-ungarischen Monarchie. 

Es ist verständlich, daß das Leben meines Großvaters von den vielen aufwühlenden Ereignissen und Erlebnissen des Ersten Weltkrieges geprägt geblieben ist. Es gilt das für das Leben fast aller Angehöriger seiner Generation, der Generation der "Frontsoldaten".

Abb. 12: Etwa 1944 - "Tante Traudel", ein "Pflichtjahrmädchen", mit den Kindern der damals rasch wachsenden Familie

Vom 30. November 1918 liegt dann ein Urlaubsschein vor für "dauernde Beurlaubung" des "Leutnant der Reserve Wilhelm Schaufler", ausgestellt vom "Ersatzbataillon des Infanterieregiments Erzherzog Rainer Nr. 59" in Salzburg.

Und vom 31. März 1919 dann jener "Entlassungsschein zugleich Kriegsdienstbestätigung", ausgestellt von derselben militärischen Einheit. Dieser Entlassungsschein ist ja schon mehrfach zitiert worden.

Ein verarmter Leutnant in Wien (1919)

Ein Jahr später wird Wilhelm Schaufler dann "außerordentlicher Hörer" an der "Universität zu Wien". Er gehörte zu der großen Schar der damals verarmten Kriegsheimkehrer. Ein Leutnant, der viel durchgemacht hat. Ein armer Schlucker zugleich. In seinem Lebenslauf schreibt er:

Da ich nach dem Kriege mittellos war, konnte ich meine Studien nicht fortsetzen und fand endlich eine Stelle als Erzieher und Lehrer für Handfertigkeit und Werkstättenleiter an der Bundeserziehungsanstalt für Knaben in Wiener Neustadt von 1. 4. 1920 bis 13. 9. 1923. 

Bastel- und Handarbeiten hat mein Großvater ja bis zu seinem Lebensende gerne gemacht.

In der Zeit danach war er für eineinhalb Jahre "als Beamter", also offenbar in der Verwaltung, einer Baufirma tätig (1923 und 1924). Es wechselten dann halbjährlich Arbeitslosigkeit, Anstellung als "Beamter" bei einer Expeditionsfirma und wieder Arbeitslosigkeit.  

Erst mit dem 1. April 1926 - also in der Zeit der wirtschaftlichen Stabilisierung - bekam er eine Daueranstellung beim Landesarbeitsamt Salzburg. Dort arbeitete auch sein Bruder Alfred. Noch im gleichen Jahr 1926 wurde mein Großvater Mitglied im Verein für Höhlenkunde Salzburg. Und am 4. Juni 1929 Mitglied des Salzburger Turnvereins. 

Am 1. November 1929 wurde er zum Amtleiter des Arbeitsamtes in Tamsweg im Lungau ernannt.

Abb. 13: Sommer 1945 - Mein Großvater (hinten), meine Großmutter (am Kinderwagen) und ihre lachenden Kinder beim Spaziergang in Zell am See

Die erste von ihm eingegangene Ehe scheiterte bald. Der Sohn, der aus dieser Ehe hervorging, kam in den 1930er Jahren beim Spielen mit Munition ums Leben. Für die Jahre 1928 und 1929 haben sich Auszüge aus dem Tourenbuch meines Großvaters erhalten. In diesem sind folgende Touren verzeichnet:

1928
28./29.2. Leoganger Steinberge, 30.2.-4.3. Glockner, 6.3. Diretissima Stuhlwand Urberg, 7.-8.7. Kommersee, 14.-15.7. kleine Watzmann Ostwand, 21.-22.7. Watzmanneck Bartolomä, 29.7. Sumpf (?), 5.8. Sumpf, 11./12.8. Barolomä Wand, 15.8. Berchtesgadener Hoch... Kamin (...)
1929
1.1. Roßfeld, 6.1. Roßfeld, 12./13.1. Stahlhaus, Schneiber, 20.1. Zistel, 26.1. Rauhenbichel, 27.1. Ehrentraudisalm, 3.2. Untersberg, 10.2. Zistel, 16./17.2. Tennengeb. Wieselstein (?), 23./24.2. Watzmannkind, 2./3.3. Hochkönig, 9./10.3. Wieserhörndl, 16./17.3. Berchtesgadener ... (?), 19.3. Untersberg Diretissima
Soweit übersehbar, waren das anspruchsvolle Klettertouren. Die seelischen Erschütterungen nach dem Ersten Weltkrieg werden auch meinen Großvater der völkischen Bewegung nahe gebracht haben.

Wie mein Großvater genau Tannenbergbund- und Ludendorff-Anhänger wurde, berichtet meine Großmutter in ihren Lebenserinnerungen nicht. Es wird dies über seinen Bruder Alfred geschehen sein, der in Salzburg eine völkische Buchhandlung betrieb und dort die sogenannte "Geschäftsstelle der Deutschen Volkshochschau" betrieb.

"Die Tages des Christentums sind gezählt!" (1931)

Es gab in jener Zeit es Pläne, eine dezidiert Katholische Universität Salzburg zu gründen. Diese Pläne sind von Seiten der katholischen Kirche bis zum Jahr 1962 weiter betrieben worden. Erst dann nahm man sie als gescheitert hin, worauf sich die katholische Kirche  - unter maßgeblicher Beteiligung eines gewissen elitären Kriminellen namens Joseph Ratzinger, damals Erzbischof von München, später Papst - 1980 entschloß, die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt (Wiki) zu gründen. 

Daß es nie zu einer Katholischen Universität Salzburg gekommen ist, dazu leisteten womöglich auch die beiden Brüder Schaufler einen Beitrag. Im Jahr 1931 organisierte Alfred Schaufler nämlich in Salzburg eine aufsehenerregende Veranstaltung des Ludendorff'schen Tannenbergbundes gegen die Gründung einer solchen Katholischen Universität. Sie fand statt vom 8. bis 13. September 1931. Gewicht bekam diese Protestveranstaltung aber erst durch die damalige persönliche Teilnahme von Erich und Mathilde Ludendorff (4, 5).

Das Ehepaar Ludendorff besichtigte aus diesem Anlaß, wie sie in ihren Lebenserinnerungen schreiben, die Festung Hohensalzburg und das Mozarthaus. Inhaltlich und verantwortlich geleitet worden war diese Tagung von einem Dr. Georg Stolte aus Hannover. Dieser war Leiter des damals bestehenden "Tannenberg-Studenten-Bundes" (4, 5), dem auch Alfred Schaufler angehört haben wird. Dieser trat als Veranstalter der Tagung auf zusammen mit dem "Tannenbergbund / Landesverband Deutsch-Österreich". Weitere Einzelheiten zu dieser Tagung sind in einem parallelen Blogbeitrag zusammengetragen (5). 

Auch ist dort die Rolle behandelt, die Alfred Schaufler und meinem Großvater Wilhelm Schaufler dabei zukamen. Erich und Mathilde Ludendorff waren nicht zufrieden mit der Organisation dieser Tagung wie sie in ihren Lebenserinnerungen schreiben. 

Abb. 14: Oktober 1932 - Aufnahme in die weltanschauliche Vereinigung "Deutschvolk e.V." mit persönlicher Unterschrift Erich Ludendorffs

Diese Veranstaltung ist in ähnlicher Weise noch einmal ein Jahr später wiederholt worden, diesmal ohne die persönliche Anwesenheit Erich und Mathilde Ludendorffs (5).

Kirchenaustritt (1932)

Erich Ludendorff hat in seiner Ansprache in Salzburg unter anderem die Worte ausgerufen: "Die Tage des Christentums sind gezählt!" Mein Großvater ist wenig später aus der katholischen Kirche ausgetreten. Leider erwähnt meine Großmutter die ganze Tagung in ihren Lebenserinnerungen nicht. Doch erwähnt sie, wie mein Großvater im Jahr 1932 aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Dies war Voraussetzung, um Mitglied der kirchenfreien weltanschaulichen Vereinigung der Ludendorff-Bewegung "Deutschvolk e.V." werden zu können. Der "Deutschvolk e.V." war die Vorgänger-Organisation des "Bundes für Deutsche Gotterkenntnis (Ludendorff)", der 1937 gegründet wurde, und der mit Unterbrechungen bis heute besteht (heute: "Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff)"). Meine Großmutter berichtet (3, S. 23):

Mein zukünftiger Mann war schon 1932 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Er hat mir erzählt, daß der Pfarrer dies auch in der Tamsweger Kirche beim Sonntagsgottesdienst öffentlich verkündet hat und der Mesner die Kirchenglocken für die "verlorene Seele" läuten mußte. Zur Entschädigung für diese Mühe erhielt dieser von meinem Mann ein Trinkgeld von zwei Schillingen.

Man scheint das alles mit Humor genommen zu haben.

Aber in einem sehr deutlichen Gegensatz zu diesem Beitritt zum "Deutschvolk e.V." stehen die lebenslangen astrologischen Interessen meines Großvaters.

Astrologische Interessen

Er glaubte zwar eigentlich nicht daran, wie meine Großmutter später ihren Kindern erzählte. Er war also nicht von der Astrologie überzeugt. Aber das sagen ja auch heute noch fast die meisten, die sich trotzdem vergleichsweise intensiv mit ihr beschäftigen. Er erstellte Horoskope für alle seine sieben Kinder. "Erstaunlicherweise" (!) sollten sogar einige der Angaben in den Horoskopen sich im späteren Leben - zumindest eines seiner Söhne - als richtig herausgestellt haben!!!

Meine Großmutter hat die Horoskope und etwa sieben astrologische Bücher meines Großvaters auch noch nach seinem Tod aufgehoben. Da sich aber in der Familie niemand mehr für diese interessierte, wurden sie nach dem Tod meiner Großmutter nicht mehr aufgehoben. Seitdem der Autor dieser Zeilen von der großen Bedeutung der Astrologie in der völkischen Bewegung der 1920er und 1930er Jahre erfahren hat (siehe anderweitige Blogbeiträge), empfindet er darüber ein wenig Bedauern.

Von Erich und Mathilde Ludendorff sind solche astrologischen Interessen früh und außerordentlich scharf abgelehnt worden. Immer wieder haben beide in ihren Aufsätzen und Büchern die Astrologie als eine Volksgefahr und der Sache nach als eine "Einstiegsdroge" für weitere okkulte Verblödung dargestellt.

Als Beispiel sei angeführt, was Erich Ludendorff am 13. Dezember 1932 zwar nicht in einem öffentlichen Aufsatz in seiner Wochenzeitung, aber in den "Verordnungsblättern" seines "Tannenbergbundes" geschrieben hat (zit. n. Mensch und Maß, 2002, auf hohewarte.de; Hervorhebung nicht im Original):
Solange die Deutschen auf jeden theosophischen, ariosophischen, pansophischen Schwindel, auf Neugeist und Mazdaznan, auf sogenanntes armanisches, nordisches Weistum und Weihtum, oder den nordischen, kosmischen Christus hereinfallen, ist den Deutschen nicht zu helfen. Sie müssen doch in der Lage sein zu prüfen, ob das, was ihnen entgegengebracht wird, dem Selbsterhaltungswillen dienen oder ob es ihn schwächen soll … Bei der Verblödung der Deutschen spielt Astrologie ja eine ganz besondere Rolle. Jeder Anhänger der Astrologie ist aus dem Tannenbergbund zu entlassen, er hat nicht die einfachsten Begriffe deutschen Denkens in sich aufgenommen und ist deshalb nur ein Schaden für den Bund … Der Kampf gegen Geistesverblödung muß tatkräftig aufgenommen werden. Es ist heute das erkannte Streben der überstaatlichen Mächte, die Regierenden durch Erpresserstrippen oder Okkultismus usw. an sich zu ketten und im Volk durch "Laienapostel", ebenfalls durch Okkultismus aller Art, den Selbsterhaltungswillen zu schwächen. Tannenberger dürfen sogenannten germanischen Glaubensgemeinschaften nicht angehören, erst recht nicht irgendeiner "Gesellschaft" wie "Deutscher Orden" usw. oder sonstigen "Vereinen", in denen Geheimorden sichtbar wirken, wie in vielen kulturellen, namentlich sogenannten germanischen, arischen Kulturbestrebungen.

Daß meinem Großvater und seinem Bruder Alfred diese Gegnerschaft des Ehepaares Ludendorff gegen die Astrologie entgangen wäre, ist eigentlich kaum denkbar.

Eine Begegnung in den Schladminger Tauern

Im Jahr 1933 lernte mein Großvater meine Großmutter Ingeborg Willner (1911-1996) kennen. Dies geschah geradezu "wie im Roman" mitten im Gebirge. Meine Großmutter stammte aus einer vormals wohlhabenden Wiener (vormals schlesischen) Familie. Ihr Vater hatte in Gießen Agrarwissenschaften studiert und verwaltete in der Zwischenkriegszeit jene landwirtschaftlichen Güter in Österreich, die vormals im Besitz der Habsburger waren. Als seine aufgeweckte und vielseitig interessierte Tochter Medizin studieren wollte, riet er ihr aber davon ab. Deshalb lernte sie Krankenschwester. Diese junge 22-jährige Wiener Krankenschwester machte nun 1933 mit ihrem Vater und ihrer Schwester eine Bergtour in den Schladminger Tauern. Ehrfürchtig sahen sie oben im Gebirge einen Maler sitzen. Der Vater knüpfte ein Gespräch mit diesem an und bat ihn, seine beiden Töchter auf einen der nächsten Gipfel zu führen. 

Abb. 15: Etwa 1955 - Meine Großmutter mit fünf ihrer sieben Kinder

Nachdem sie von dort zurückgekehrt waren, sagte der Vater meiner Großmutter: Hast Du gesehen, der hatte am Revers einen Ludendorff-Adler. Den kannte meine Großmutter noch gar nicht, obwohl sie zu jener Zeit schon mehrere philosophische Bücher von Mathilde Ludendorff gelesen hatte (darüber ggfs. noch einmal in einem anderen Beitrag). Abends auf der Hütte merkte sich mein Großvater die Adresse, die meine Großmutter auf eine Postkarte nach Hause nach Wien schrieb. Und er knüpfte dann einen Briefkontakt mit ihr an.

In Tamsweg im Lungau (1937)

Sie besuchten sich in den nächsten vier Jahren gegenseitig und machten gemeinsame Wanderungen und Bergtouren. Aufgrund der bigott-katholischen Gesetzgebung des damals in Österreich herrschenden Klerikalfaschismus durfte mein Großvater als Geschiedener kein zweites mal heiraten. Meine Großmutter berichtet darüber, wobei fast jeder ihrer Sätze noch genauerer zeitgeschichtlicher Erläuterung und Einordnung bedürfte, so kompliziert lagen damals die Dinge (3, S. 23):

Da wir trotz beiderseitigen Kirchenaustrittes uns den damals für den Staat Österreich geltenden katholischen Kirchengesetzen unterwerfen mußten und nicht heiraten konnten, auch nicht zusammenziehen durften, da wir sonst im "Konkubinat" gelebt hätten und in diesem Falle mein Mann seine Stellung im Arbeitsamt als Angestellter im Staatsdienst verloren hätte, bemühte er sich für mich um eine Arbeit in Tamsweg, die er im Jahre 1937 bei Dr. Menz, als Ordinationsgehilfin fand.
Ich mußte mir extra ein Zimmer nehmen und bei meiner Vorgängerin innerhalb von vierzehn Tagen das Anfertigen von Zahnprothesen und Goldkronen erlernen. Dr. Menz hatte vormittags Allgemeine Praxis, nachmittags und Sonntag Vormittag wurde die Zahnbehandlung für die Bauern des Lungaues durchgeführt.
Auch den Warteraum mußte ich putzen. Die Bauern ließen besonders im Winter Wasserlachen vom an den Schuhen anhaftenden Schnee zurück. Die Gipsarbeiten und das Vulkanisieren der Zahnprothesen mußten im Zahnbehandlungsraum durchgeführt werden, ebenso das Schleifen. Es erforderte gute Einteilung und schnelles Wegräumen, um immer wieder alles sauber und ordentlich zu haben.
Auch mußte mein Mann, der schon viel früher mit seiner Arbeit fertig war, oft lange an unserem Treffpunkt und Badeplatz an der Taurach auf mich warten. In diesem Jahr lernte ich trotzdem den Lungau im Sommer und im Winter gut kennen.

Als gelernte Krankenschwester hatte meine Großmutter ja keinerlei Vorkenntnisse, die für eine Tätigkeit als Zahnarzthelferin notwendig gewesen wären.

Der "Vater des Lungaus" (1938)

Was aus diesen Worten nicht hervorgeht, was aber aus inzwischen erschienener zeitgeschichtlicher Literatur (6-8) entnommen werden kann, ist der Umstand, daß dieser Dr. Menz gar nicht einmal nur "irgendwer" war. Es handelte sich um den Sprengelarzt Dr. Otto Menz (1890-1980) (Salzburg-Wiki). Er war Mitglied der illegalen österreichischen NSDAP. 1938 ist er Kreisleiter der NSDAP geworden, wie man Angaben im Internet entnehmen kann und wie meine Großmutter ebenfalls in ihren Lebenserinnerungen andeutet. Schon im März 1931 war Dr. Menz bei Salzburger Gemeindewahlen als Redner der NSDAP aufgetreten. Es wird berichtet (6, S. 65, 67):

... Darunter auch der Tamsweger Arzt und spätere Kreisleiter Dr. Otto Menz, der eigentlich zu dieser Zeit noch Lungauer Gauleiter der Großdeutschen Volkspartei war.
Menz wurde während des Ständestaates - natürlich - als politisch unzuverlässig beurteilt (8, S. 45, 105). 1938 wurde er nun kommissarischer NSDAP-Kreisleiter des Lungau und "residierte" in der Bezirkshauptmannschaft Tamsweg (Salzburg-Wiki) (pdf). In einer Radiodokumentation aus dem Jahr 1988, deren Manuskript 2008 in die Geschichtszeitschrift Salzburgs übernommen wurde, heißt es über Otto Menz (7, S. 44):
Nach übereinstimmenden Berichten vieler Zeitzeugen dürfte auch der Lungauer Kreisleiter Dr. Menz nicht zu den Scharfmachern gezählt haben.
Zeitzeuge: „1938 hat der Lungau dadurch, daß der Kreisleiter so eine imponierende Persönlichkeit war und der Kreisleiter der Vater des Lungaues, der Arztvater des Lungaues genannt werden darf, hat der Kreisleiter in seiner gerechten Art usw. zum Beispiel bei der Vergebung der verschiedenen Posten z. B. Ortsgruppenleiter usw. keinen Rowdy in seinen Mitarbeiterstab hineingenommen. Da könnte ich Namen nennen, Leute, die sich in der Verbotszeit da irgendwie hervorgetan haben bei irgendeiner Rauferei usw., die hin und wieder schon entstehen konnten, und die geglaubt haben, sie haben nun die Verdienste, da hat der Dr. Menz von vornherein Ordnung geschaffen.“
Die Hilfsbereitschaft des Arztes Dr. Menz wird auch von Gegnern des Nationalsozialismus anerkannt. Manche mittellose Lungauer wurden kostenlos behandelt oder erhielten kleine Zuwendungen. In Tamsweg herrschte überhaupt ein anderes Klima als in den übrigen Nazihochburgen im Lungau. Die Halleiner Schulschwestern mußten zwar den Kindergarten aufgeben und die Schulen räumen, im Krankenhaus konnten sie aber bleiben. Dort wirkte mit Dr. Ellmautaler die ganze NS-Zeit hindurch ein erklärter Gegner des Regimes als Primar. Kreisleiter Dr. Menz war Konsiliararzt.

Diese Schilderungen und der Bericht meiner Großmutter bestätigen und ergänzen sich gegenseitig sehr gut. Würde meine Großmutter heute noch leben, könnte sie diesem Bericht sicherlich noch viele Einzelheiten hinzufügen. 

Abb. 16: Aquarell von Wilhelm L.O. Schaufler (1892-1950)

Zu ihren Lebzeiten ist mir allerdings nie klar gewesen, daß sie Zahnarzthelferin eines regional- und zeitgeschichtlich keineswegs so unbedeutenden Zahnarztes gewesen ist.

Fahnen und Reden im Lungau (31. März 1938)

Wie gestaltete sich der Anschluß Österreichs an das Detusche Reich ab dem 12. März 1938 im einzelnen im Lungau? Hermann Göring spielte dabei eine große Rolle. Dieser hatte nämlich eine ganz besondere Beziehung zum Lungau (Wiki):

Hin und wieder besuchte der junge Hermann Göring die Familie Epenstein auf Schloß Mauterndorf (ca. 90 Kilometer südlich von Salzburg), das er später "die Burg seiner Jugend" nannte.
Und ähnlich auch noch einmal zum Mai 1945 (Wiki):
Nach Hitlers Selbstmord am 30. April 1945 (...). Auf eine Frage, wohin er nun wolle, antwortete er: "Auf die Burg meiner Jugend." Er begab sich am 7. Mai 1945 auf die Fahrt zur Burg Mauterndorf (Österreich), und da es unsicher war, ob es den sowjetischen Streitkräften nicht doch noch gelingen würde, ins Murtal, also bis in den Salzburger Lungau vorzustoßen, entschied er sich, nach Schloß Fischhorn im Salzburger Pinzgau zu fliehen.
In "besseren Tagen" (aus der Sicht Görings), nämlich als Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, besuchte Göring den Lungau. Und das war für den Kreis eine große Sache (7, S. 21-23):
Das Spektakel des Jahres spielte sich am 31. März in Tamsweg und Mauterndorf ab. Anscheinend der ganze Lungau war auf den Beinen, um Hermann Göring zu begrüßen, der von Graz kommend in seine Wahlheimat einzog. Alle Orte entlang der oberen Muhr und speziell die Strecke zwischen Tamsweg und Mauterndorf waren mit Triumpfbögen und Fahnen geschmückt und 13 Sonderzüge der Muhrtalbahn wurden eingesetzt, um die Menschenmassen heranzukarren. Die erste Begrüßung auf Lungauer Boden fand in Tamsweg statt. Die Tauernpost berichtete ausführlich:
„Dann bestieg Herr Bürgermeister Rath die kleine Rednertribüne vor dem Rathaus, gab seiner Freude Ausdruck, daß er als erster nationalsozialistischer Bürgermeister des Lungaues die Ehre habe, Herrn Generalfeldmarschall in unserer Mitte begrüßen zu können, teilte mit, daß der Marktplatz von heute ab Adolf-Hitler-Platz genannt werde, bat den Herrn Ministerpräsidenten um die Erlaubnis, die Kirchengasse, durch die die Weiterfahrt gehen werde, nunmehr Hermann Göring-Straße nennen zu dürfen und teilte dem Herrn Feldmarschall weiter seine Ernennung zum Tamsweger Ehrenbürger mit. Er schloß seine Rede mit einem dreifachen Sieg-Heil auf unseren geliebten Führer Adolf Hitler und den Getreuesten seiner Getreuen, Hermann Göring."
Der Empfang in Mauterndorf wurde laut „Tauernpost“ zur größten Veranstaltung, die der Ort je gesehen hatte. In seiner Rede ging Göring geschickt auf die miserablen Verkehrsbedingungen im Lungau ein und verfügte spontan, daß die Muhrtalbahn zu einer zweigleisigen Normalspurbahn mit Anschluß nach Radstadt ausgebaut werden müsse. Mit den Vorarbeiten sei sofort zu beginnen. Weiters sei in Turrach eine Eisenhütte zu errichten. Auch der Ausbau der Wasserkräfte im Lungau müsse in Angriff genommen werden, damit auch der entfernteste Bergbauer seinen Licht- und Kraftstrom beziehen könne. Für die Landwirtschaft versprach Göring Kredite und Beihilfen. Zum Abschluß geißelte er die religionsfeindlichen Bestrebungen der Kommunisten, mit denen sich Schuschnigg im letzten Augenblick noch verbünden wollte. Nach dieser Rede marschierten zu Ehren des Generalfeldmarschalls der Samson und die Zwerge auf und mehrere Trachtengruppen boten ländliche Tänze. Die Ehrenbürgerschaft erhielt Göring angeblich wegen seiner Verdienste um die Wasserleitung. Die Ernennung erfolgte allerdings schon am 15. März und somit lange vor Baubeginn.
In der illegalen Zeit wurde die Lungauer NSDAP von der Steiermark aus betreut. Nach dem Anschluß sollte der Bezirk auch politisch von Salzburg abgetrennt werden. Das konnte nur Göring verhindern!
Zeitzeuge: „1938, in den Märztagen, hat es auf ein Mal geheißen: So, der  Lungau gehört zur Steiermark. Das hat die Lungauer so bestürzt und so enttäuscht, daß wirklich absolut keine Freude aufgekommen ist, im Gegenteil, man hat den Kreisleiter Dr. Menz und den Organisationsleiter und noch einen Dritten förmlich bestürmt, sie müssen sofort nach Berlin fahren zu Göring und müssen Göring bitten, daß das wieder in Ordnung gebracht wird. Und sie sind nach Berlin gefahren und der Göring hat sie empfangen und hat zuerst gesagt: „Meine Herren, geographisch gehört der Lungau zur Steiermark." Dann hat er sie eine Zeit warten lassen und dann hat er gesagt: „Dem Herzen nach gehört der Lungau zu Salzburg." Und da waren sie natürlich dann glücklich, sind heim gefahren und dann ist eigentlich erst im Lungau der Anschluß mit Freude gefeiert worden.“

Eheschließung (6. Mai 1938)

In den im Jahr 1990 niedergeschriebenen Erinnerungen meiner Großmutter stellten sich diese Ereignisse rund um den Anschluß folgendermaßen dar (3, S. 26):

Der Anschluß Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 wurde auch im Lungau groß gefeiert. Mein Chef Dr. Menz war damals Kreisleiter als Arzt und überließ die Ordination oft meiner Betreuung. Leider konnte ich die Patienten meist nur auf später vertrösten. Zur Feier des Anschlusses kam Hermann Göring in den Lungau, der in seiner Kindheit die Ferien oft im Schloß Mauterndorf verbracht hatte. Auf einer großen Wiese bei Mauterndorf wurden Tribünen mit Hakenkreuzfahnen errichtet, wo Göring mit Ansprachen von Dr. Menz empfangen wurde. Die Bevölkerung des ganzen Lungaus wurde mit Lastautos herangeschafft, um eine "Volksbewegung" auf die Beine zu stellen. Auch die Prangerstangen, der Samson und die Zwerge aus Zederhaus wurden aufgeboten. In Tamsweg gab es am nächsten Tag noch einen Fackelzug. Ich konnte alles aus nächster Nähe mitmachen, war damals schon im siebenten Monat schwanger und wußte, daß wir nun heiraten können.
Das deutsche Ehegesetz wurde allerdings in Österreich erst im Juli eingeführt, doch gab es ja noch das alte Gesetz von 1925 über die Dispensehe. Das Gesuch dazu ging mit der Befürwortung von Dr. Menz an den Landeshauptmann von Salzburg. Allerdings kannte sich niemand mit den Bestimmungen aus und das Gesuch wurde irrtümlich nach Wien geschickt, wo es gut unter einem Aktenberg geruht hätte, wenn Dr. Menz nicht der Sache nachgegangen wäre.
Am 3. Mai kam endlich die Bewilligung und nach dreitägigem Aufgebot konnten wir auf der Bezirkshauptmannschaft in Tamsweg heiraten. Dr. Menz und Herr Eckel waren unsere Trauzeugen. Meine Mutter und Schwester Helga trafen aus Wien ein und brachten Grüße von meinem Vater mit. Ich hatte die Geburt von Gernot (dem ersten Sohn) erst am 20. Mai erwartet, er kam aber schon am 12. Mai auf die Welt, sechs Tage nach unserer Hochzeit. Er war somit "ehelich" geboren. Meine Adoption durch Tante Olga war also nicht notwendig gewesen. Unser Hochzeitstag wurde gefeiert mit einem schönen Maienspaziergang durch blumige Almwiesen mit kleinen Stiefmütterchen und vielen hölzernen Zäunen, die überstiegen werden mußten.

Beruflich war die Arbeit auf dem Arbeitsamt in Tamsweg geprägt durch die preußischen Beamten, die sich hier wie anderwärts in Österreich nicht gerade beliebt machten.

Abb. 17: Aquarell von Wilhelm Schaufler (1892-1950)

Vielleicht ähnlich den "Besser-Wessi's" nach 1989 in den "neuen" Bundesländern.

In Zell am See (1938 bis 1950)

Am 12. Mai 1938 wurde der erste Sohn geboren. Ihm folgten in zügiger Abfolge sechs weitere Kinder. Der jüngste Sohn, das siebte Kind, wurde 1947 geboren. Einige Zeit später konnten meine Großeltern eine Wohnung im Haus von Dr. Menz beziehen (3, S. 27).

Allerdings wurde mein Großvater noch im Jahr 1938 nach Zell am See versetzt, um die Stelle als Leiter des dortigen Arbeitsamtes anzutreten (3, S. 28).

Zu dem Leben in Zell am See sind noch einige schöne Fotos in den Familienalben zu finden. Seit 1938 erhielten Familien mit vier oder mehr Kinder 14- bis 15-jährige "Pflichtjahrmädchen" (Wikip., Kollekt. Ged.). Meine Großmutter wird somit ihr erstes Pflichtjahrmädchen nach der Geburt ihres vierten Kindes 1942 bekommen haben. Auf Abbildung 12 ist ein solches Pflichtjahrmädchen mit den Kindern zu sehen - im Hintergrund das "Steinerne Meer". Meine Großmutter schreibt über ihre Pflichtjahrmädchen in ihren Lebenserinnerungen:
Ich hatte damals immer Pflichtjahrmädchen zur Hilfe. (Sie hießen Jolanda, Hierlanda, Klara usw.) So konnte ich mehrmals in der Woche in der Mittagspause meinen Mann im Arbeitsamt abholen und wir konnten in eineinhalb Stunden schnell mit der Seilbahn auf die Schmittenhöhe fahren und mit den Skiern abfahren. Der Preis für die Seilbahn war damals niedrig und ich hatte allmählich Übung im Ski Fahren bekommen. 

Eigentlich eine tolle Einrichtung, diese Pflichtjahrmädchen. Warum gibt es das heute nicht? - Eine andere, hier nicht eingestellte Aufnahme entstand vor einem Trafo-Häuschen oder etwas ähnlichem in Zell am See. Interessanterweise scheint an der Tür ein Propagandazettel gehangen zu haben mit den groß gedruckten Worten "Die Tat" und "Das Opfer". 

Abb. 18: Aquarell von Wilhelm L.O. Schaufler (1892-1950)

Leider ist das kleiner Gedruckte nicht zu entziffern. Mein Großvater war jedenfalls froh, daß er während des Zweiten Weltkrieges "unabkömmlich" gestellt war und nicht ein zweites mal in den Krieg mußte.

Entlassen - mit sechs Kindern (1945)

Ausgerechnet am 8. Mai 1945 brachte meine Großmutter ihr sechstes Kind zur Welt. Zu dieser Zeit waren alle ihre Wiener Angehörigen vor den Russen nach Zell am See geflüchtet (3, S. 31):

Es war der 8. Mai 1945, der Tag an dem die Amerikaner in Zell am See einmarschierten. Da wir Ausgangsverbot hatten und ich nicht wußte, ob mich meine Angehörigen im Krankenhaus besuchen konnten, blieb ich zur Entbindung lieber zu Hause. (...) Alle meine Angehörigen, die von Wien vor den Russen zu uns geflüchtet waren, mußten in die Küche verbannt werden. Ich vernehme noch heute im Geiste das Freudengeschrei aus der Küche, als die Hebamme die Ankunft von G. verkündet hatte.
Die ganze Zeit damals war recht aufregend. Gleich in unserer Nachbarschaft wurde im Hotel Austria amerikanisches Militär einquartiert. Im Großen und Ganzen ging es uns unter der Besatzungszeit verhältnismäßig gut. Die Amerikaner verteilten Carepakete und ich bekam für die Stillzeit und für die Kinder reichlich Lebensmittel. Nur für die Normalverbraucher gab es ziemlich knappe Zuteilungen. Und ich hatte damals mit den Verwandten 15 Leute zu verpflegen, was oft nicht leicht war. Meine Schwestern und meine Cousine Gisela wurden nach einiger Zeit bei einem Bauern untergebracht und mußten für ihre Verpflegung Bauernarbeit tun. Gisela war ein ganzes Jahr bei Frau Pf. in Thumersbach, bevor sie zu ihrem Vater, der von Schlesien flüchten mußte, zurückkehren konnte (nach Bad Gandersheim).

Zell am See war von den Fallschirmjägern der 101. US-Luftlandedivision besetzt worden, die sich als Hauptquartier das Grand Hotel wählte. Ein Scharfschütze dieser Divsion erinnert sich (16):

Es prima Land war das, um dort als Soldat Dienst zu tun. Niemand tat noch besonders viel Dienst, einige hielten sich mit Laufen fit, es gab einigen Drill, um uns einsatzbereit zu halten. Es war wirklich ein schöner Ort mit einem glasklaren See in der Mitte der Stadt. (...) Ausruhen nach einem harten Kampf. Noch nicht einmal die Krauts machten den Eindruck, als wollten sie noch irgendwie die Dinge aufrühren. An den meisten Tagen sah man Feindsoldaten aus den Bergen herunterkommen, um gegenüber den alliierten Truppen zu kapitulieren. Sie kamen zu hunderten herunter, hungrig und geschlagen, weit entfernt von dem Töten und Kämpfen, in dem wir mit ihnen gerade erst begriffen gewesen waren.   
Come war’s end we was pulling occupation duty in Zell am See, a middling-sized town in Austria near the foot of the Alps. Fine country to be soldiering in. No one was doing much work no more, some running maybe, some drilling to keep us sharp. Was a beautiful place, truly, with that glassy lake in the center of town. Why, shoot - compared to the aggravation we’d just fought through, the place we now stayed made a fellow feel almost lighthearted in spite of his weariness, as if he was relaxing on his front porch after a hard day’s work. Not even the Krauts felt like stirring things much up. Most days you’d see enemy soldiers hike out of the Alps and surrender to Allied troops. They came down by the hundreds all hungry and beat down, such a far sight from the killing and fussing we’d just been through with them.

Wie unterschiedlich mein Großvater und meine Großmutter zu den Zeitereignissen innerlich Stellung nahmen, geht aus dem nächsten Zitat meiner Großmutter hervor. 

Warum wurde mein Großvater 1938 Mitglied der NSDAP?

Sie selbst konzentrierte sich ganz auf das Familienleben und hatte damit gewiß genug zu tun. 

Abb. 19: Zell am See wurde am 8. Mai 1945 von den Amerikanern kampflos besetzt, von den Fallschirmjägern der 101. US-Luftlandedivision. Sie bezog mit ihrem Hauptquartier das Grand Hotel vor Ort. Dieses Foto entstand einige Wochen nach dem 8. Mai, als Deutsche im Auftrag der Amerikaner in Zell am See einen Sicherheitsdienst versahen (aus: WarHistory2012) (16)

Während mein Großvater, wie sie schreibt, sich "die ganze schwere Zeit sehr zu Herzen" nahm (3, S. 31f):

Mein Mann war der Erste gewesen in Zell am See, den man wegen seiner Parteizugehörigkeit zur NSDAP entlassen hatte. (...)  An dem Tag, als mein Mann nach Hause kam - nunmehr: "vogelfrei", fragte ich, was er nun tun wolle. Er sagte: "Malen!" und nahm sein Malzeug und malte ein wildbewegtes Bild vom See mit dem Kitzsteinhorn. Leider wurde es später verkauft. Denn nun mußten wir vom Verkauf der Bilder leben; solange die Leute noch Geld hatten - bis zur Währungsreform - ging dies auch. Viele der schönsten Bilder gingen damals weg. Mir tat es um jedes gute Bild leid. Diejenigen Bilder, die mir besonders am Herzen lagen, ließ ich mir von ihm schenken, um sie vor dem Verkauf zu schützen. Bin ich doch oft bei unseren Wanderungen dabei gewesen, als sie entstanden. (...)
Willi nahm sich die ganze schwere Zeit sehr zu Herzen. Sah er doch, nun stellungslos, keine Zukunft mehr für sich und die Familie. Da ich noch jünger und optimistischer war, sagte ich manchmal zu ihm: "Wir können noch von Glück sagen gegenüber vielen anderen Menschen, wir leben noch, die Kinder sind gesund, wir haben ein Dach über dem Kopf und sind noch nicht verhungert. Andere sind ausgebombt und haben Angehörige verloren."

Alle Umstände der Parteizugehörigkeit meines Großvaters, die zusätzlich dazu beigetragen haben können, daß er sich "die ganze schwere Zeit sehr zu Herzen nahm", sind aus dem Nachhinein nicht mehr restlos zu klären. In einem von ihm niedergeschriebenen Lebenslauf vom 8. April 1948 schreibt er:

Am 1. 4. 1926 wurde ich als Angestellter beim Arbeitsamte Salzburg aufgenommen, wo ich ununterbrochen bis zum 30. 6. 1945 verblieb. (...) Ich war Mitglied der NSDAP (ohne Funktionen und bin als Minderbelasteter eingestuft) und wurde ohne Wissen meiner vorgesetzten Behörde in Salzburg über örtliche Veranlassung von der amerikanischen Militärregierung am 30. V. 1945 meines Dienstes enthoben. Seither war ich als selbständiger Kunstmaler und anerkanntes Mitglied der Berufsgenossenschaft der bildenden Künstler tätig.

Eines der Kinder meiner Großmutter berichtet über die Zugehörigkeit des Großvaters zur NSDAP:

Meine Mutter erzählte nicht allzulange vor ihrem Tod darüber: er wäre als inoffizielles Mitglied geführt worden, was er selbst gar nicht gewußt hätte. Bei der Aufforderung, in die Partei einzutreten (wohl 1938) hätte er dies abgelehnt, aber - österreichisch verbindlich - stattdessen der Partei eine Spende gemacht. Als (vormaliges) Mitglied des Tannenbergbundes wollte er der NSDAP nicht beitreten. Er wäre den politischen Entwicklungen schon in der Anfangszeit der NSDAP kritisch gegenübergestanden im Gegensatz zu seiner Frau, die optimistischer war. 1945 wäre er "denunziert" worden. Unsere Mutter wäre drei mal beim (jetzt kommunistischen) Bürgermeister in Zell am See vorstellig geworden, um die Entlassung unseres Vaters aus der "Strafarbeit" (er schaufelte als Hilfsarbeiter beim Staudammbau in Kaprun) zu erreichen mit dem Hinweis, daß er dieser schweren körperlichen Arbeit nicht gewachsen wäre und die große Familie möglicherweise eines Tages der Gemeinde zur Last fallen werde.

Das Schicksal der Mitglieder des vormaligen Tannenbergbundes und der Ludendorff-Anhänger nach 1933 ist noch wenig erforscht. Einige landeten im Konzentrationslager. Andere sind auch - früher oder später - der NSDAP oder der SS beigetreten. Noch Anfang der 1940er Jahre beklagten sich Gestapo-Stellen (beim Ludendorff-Anhänger Landesgerichtsdirektor Wilhelm Prothmann [?]), daß dies so unverhältnismäßig wenige wären. 

Umgekehrt sind auch manche vormalige Nationalsozialisten und SS-Männer, nachdem oder weil sie mit der Ludendorff-Bewegung in Berührung gekommen waren und aus der Kirche ausgetreten waren, innerlich in verschiedener Weise auf Distanz gegangen zur NSDAP. Ein gutes Beispiel dafür scheint mir mein Opa väterlicherseits zu sein, über den schon in einem anderen Blogbeitrag berichtet wurde.

Wie dargestellt war mein Großvater Wilhelm Schaufler bis 1936 nicht nur ein guter Freund von Edi Rainer, der offenbar auch aus patriotischen Gründen und in politischen Zusammenhängen von Salzburg aus ins Reich geflüchtet war, dort Mitglied der österreichischen Legion geworden war und 1936 an der Eiger-Nordwand den Tod gefunden hat, sondern er war 1937/38 auch dem "Vater des Lungau", dem Kreisleiter Dr. Menz, zu viel Dank verpflichtet. Da derselbe ihm so vielseitig geholfen hatte bei der Gründung seiner Familie.

Ob sich mein Großvater deshalb - und weil Dr. Menz offenbar auch nicht zu den "Scharfmachern" gehörte -  bewogen gefühlt hat, einer ihm angetragenen Umwandlung seiner ihm selbst womöglich bis dahin unbekannt gebliebenen inoffiziellen Parteimitgliedschaft in eine offizielle 1938 nicht zu widersprechen - über all das liegt offenbar nichts Gewisses mehr vor. Jedenfalls redet sich mein Großvater 1948 in seinem Lebenslauf nicht lange heraus. Wer weiß auch, was der Gefühlsüberschwang des Jahres 1938 bei meinen Großeltern, für die derselbe ja wie geschildert ein doppelter gewesen ist, alles ausgelöst hat.

Abb. 20: Zwangsarbeit bei den Ennskraftwerken vor 1945 (Amazon) - In ähnlicher Weise mußte mein Großvater nach 1945 Zwangsarbeit leisten beim Bau des Tauerkraftwerkes in Kaprun 

Mein Großvater hat nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in Zeiten der Arbeitslosigkeit auch von dem Verkauf seiner Bilder gelebt. In dieser Zeit bezeichnete er sich als "Kunstmaler". Aber er hat darauf weder eine Existenz aufbauen können noch wollen.

Wiederanstellung beim Arbeitsamt Kaprun (1948)

Meine Großmutter berichtet weiter (3, S. 33):

Im August 1948 konnte Willi wieder in das Arbeitsamt eingestellt werden, doch mußte er nun auf der Außenstelle in Kaprun arbeiten und alle Tage hin und her fahren. Vorher hatte er als Hilfsarbeiter im Tauernkraftwerk arbeiten müssen, da wir nach der Währungsreform ohne Zahlungsmittel dastanden. (...)
Willi hat für den Speiseraum in der Küchenbaracke des Tauernkraftwerkes sieben große Bilder mit Leimfarben gemalt. Es wurden Jagdtiere gewünscht, die er in Landschaften seiner eigenen Skizzen gesetzt hat: Auerhahn auf einer Tanne in Abenddämmerung mit Steinernem Meer als Hintergrund, Gemse mit Großglockner, Murmeltier mit Kitzsteinhorn, Fuchs hinter einem Stein hervorkommend auf dem täglichen Waldweg der Arbeiter zum Lager, balzende Rebhühner usw.

Ob diese Bilder erhalten sind? Der Bau von zwei großen Staumauern für einen Stausee auf 2.000 Metern Höhe, also weit oberhalb der Baumgrenze im schwer zugänglichen Hochgebirge (Hochgeb.st.see Kaprun), war schon 1928 konzipiert worden. 1955 konnte das Tauernkraftwerk Kaprun schließlich in Betrieb genommen werden (Wik). Mit dem schwer durchführbaren Großprojekt war erst 1938/39 nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich begonnen worden. Der Kraftwerkbau spielte vor wie nach 1945 eine große Rolle in der Öffentlichkeit, wurde dargestellt als eine heroische Tat des Menschen im Kampf mit der Natur.

Schon während des Krieges wurden auch Zwangsarbeiter eingesetzt. Der Bau kam aber - laut Wikipedia - in dieser Zeit kaum voran: "Ab 1947 wurde das Projekt mit enormen Mitteln aus dem Marshallplan gefördert." 1955 konnte das Kraftwerk schließlich in Betrieb genommen werden. Welche Rolle der Kraftwerksbau in der Öffentlichkeit der damaligen Zeit spielte, geht auch noch aus dem Umstand hervor, daß ein Heimatfilm wie "Ruf der Wälder" (Wiki) (a) *) aus dem Jahr 1965 auf ihn Bezug nahmen:

In die Filmhandlung wurde das Tauernkraftwerk Kaprun einbezogen, das symbolhaft für den Wiederaufbau Österreichs nach Ende des Zweiten Weltkriegs stand und in mehreren österreichischen Heimatfilmen der Zeit eine zentrale Rolle spielte. (...) Gedreht wurde in und um Kaprun.

Die letzten Monate (Oktober 1949)

Über die Zeit sechs Monate vor dem Tod meines Großvaters berichtet meine Großmutter (3, S. 30):

Lange hatte er nichts mehr gemalt. Durch das Malen nur zum Verkauf hatte er wohl die Freude und die Fähigkeit verloren, die Naturstimmungen so wie früher mit dem Pinsel zu erfassen. Wie erstaunt war ich - es war sechs Monate vor seinem Tod - als er eines Tages von Kaprun nach Hause kam und mich bat, seine Mappe zu öffnen: Es waren zehn der besten Aquarelle drin, die er in der letzten Zeit in der Mittagspause in Kaprun gemalt hatte.

Das war also etwa im Oktober 1949. Ein halbes Jahr später, am frühen Morgen des 3. Mai 1950, starb mein Großvater ganz überraschend mit 58 Jahren. Womöglich starb er daran, daß er - wie auch mein Opa väterlicherseits - Raucher war, was ihm meine Großmutter nie hatte abgewöhnen können. (Ein genetischer Test des Blogautors bei 23andMe im Jahr 2016 brachte an den Tag, daß es in der Familie eine erhöhte genetisch mitbeeinflußte Neigung gibt, an Nikotinsucht zu erkranken. Ebenso übrigens gibt es auch eine erhöhte Neigung zur Glatzenbildung. Beides Eigenschaften, die sich bei beiden Großvätern finden.) Meine Großmutter berichtet (3, S. 30f):

Im letzten Jahr war er oft sehr nachdenklich, sprach nicht viel und ich wußte oft nicht, wo er mit seinen Gedanken war. (...) Damals war Willi befreundet mit dem Arzt Dr. Zoepnick, der auch Aquarelle malte. Er besuchte ihn öfters am Abend. Dr. Zoepenick war wohl damals auch schon krank. Er starb etwas später an Schlaganfall. Als Willi nach Hause kam, so gegen neun Uhr und wir schlafen gingen, ließ ich mir noch erzählen, worüber sie sich unterhalten hätten. Er teilte mir mit, Dr. Zoepnick hätte ihm gesagt, er hätte nach vielen Jahren versucht, wieder zu beten - merkwürdig, was ich davon hielte? - Nun, wir schliefen bald ein. Morgens gegen halb fünf Uhr wachte ich auf durch Willis Stöhnen und nach Luft Schnappen, wie es schon einmal vierzehn Tage zuvor der Fall gewesen war. Damals wachte er dann bald auf und erzählte mir, er hätte geträumt. Er träumte öfters vom ersten Weltkrieg und machte dabei alle Situationen, bei denen er in Lebensgefahr war, noch einmal durch. Bei Wiederholung solle ich ihn wecken. - Ich versuchte es diesmal, richtete ihn im Bett etwas auf. Aber es kam nur noch ein letzter Atemzug nach einem Krampf und das Ende war da.

Es ist niemals zu unterschätzen, was Kriege in Menschen auslösen. Meine Großmutter stand mit sieben Kindern allein da. Die sieben Kinder haben ihren Vater, der starb, als das älteste der Kinder erst zwölf Jahre alt war, als ihnen sehr zugewandt in Erinnerung.

Gerne bastelte er für die Kinder Spielzeug, kleine Kästchen, die er bemalte, Utensilien, die bis heute in ihrem Besitz geblieben sind. Alljährlich stellten die Mutter und ihre sieben Kinder - gemäß eines Brauches in Zell am See - zu Weihnachten auf seinem Grab hoch über dem Zeller See ein kleines Bäumchen auf und zündeten daran Kerzen an. Als das Grab aufgelassen wurde, kam der Grabstein auf einen Friedhof an den Bodensee. Unter diesem ist heute unsere Großmutter und einer ihrer Schwiegersöhne begraben.

Abb. 21: Ölgemälde von Wilhelm L.O. Schaufler (1892-1950)

1996 sagte dieser ihr Schwiegersohn anläßlich ihrer Beerdigung über sie und den Großvater:

Die beiden stellten ihr Leben unter eine neue und eigene Gottauffassung, fern von den herkömmlichen christlichen Religionen. (…) Aber nur 12 Jahre des erfüllten Zusammenseins waren geschenkt: Wilhelm Schaufler starb unerwartet im Jahre 1950, im Alter von 58 Jahren. Wir Jüngeren bedauern alle es sehr, daß wir ihn nicht selbst näher kennen gelernt haben. Die Bilder, die er malte, sind ein Spiegel seines Wesens. (...) Mutter ist es gelungen, (…) die sieben Kinder zu gesunden, bescheidenen und tüchtigen Menschen heranzuziehen, die alle eine gute Berufsausbildung erhielten, und von denen zwei sogar ein Hochschulstudium durchlaufen konnten.

Über das Leben von Großmutter sicher noch einmal in einem anderen Beitrag.


/ zuerst 17.11.2012; 
letzte Überarbeitungen: 
30.8.2014, 2.10.2016,
 27.11.21, 26.6.22, 20.5.23 [16] /
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*) Mit den Mitteln des Heimatfilmes (!) wurde schon damals den Deutschen und Österreichern Gastarbeiter-Zuwanderung und -Integration schmackhaft gemacht. Man merkt dem Film aber an, wie das, was heute "normal" ist im Zusammenhang mit Multikulti-Propaganda, damals noch neu und ungewöhnlich war.
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  1. Bading, Ingo: Meine Ahnen und ihre Zeit. Facharbeit 10. Klasse, Realschule Homberg/Efze, Ostern 1982 (unveröffentlichtes Manuskript)
  2. Laserer, Wolfgang: Karl Springenschmid (Biographie). Weishaupt, Graz 1987 
  3. Schaufler, Ingeborg (1911-1996): Meine Wanderungen durch Zeit, Gebirge, Täler und Familien. Lebenserinnerungen über acht Jahrzehnte. Geschrieben von Februar bis Dezember 1990. Als Manuskript im Familienbesitz.
  4. Stolte, Georg (Tannenberg-Studentenbund) (Hg.): Der Kampf um Salzburg. Vorträge und Ansprachen der Deutschen Volkshochschule Salzburg vom 8. - 13. Scheidings 1931. Ludendorffs Volkswarte-Verlag, München 1931
  5. Bading, Ingo: 1931 - Ludendorffer wider die Gründung einer katholischen Universität in Salzburg. Studiengruppe Naturalismus, 17.11.2012 
  6. Schausberger, Franz: Alle an den Galgen! - Der politische "Takeoff" der "Hitlerbewegung" bei den Salzburger Gemeindewahlen 1931. Böhlau, 2005 (GB)
  7. Kolmbauer, Hans; Spatzenegger, Hans: Das achtunddreißiger Jahr im Bundesland Salzburg. Zusammenfassung einer achtteiligen Hörfunkserie. Radio Salzburg, März bis November 1988. Österreichische Widerstandsbewegung prov. Landesleitung Salzburg 1. Mitteilungsblatt. Die Österreichische Demokratische Freiheitsbewegung als Wegbereiter der Demokratie. Programmatisches Rundschreiben. In: Salzburg - Geschichte und Politik, 18. Jahr, 2008, Nr. 1/2, S. 7 - 60 (pdf)
  8. Stock, Hubert: "... Nach Vorschlägen der Vaterländischen Front". Die Umsetzung des christlichen Ständestaates auf Landesebene, am Beispiel Salzburgs. Böhlau Verlag, 2010 (GB)
  9. Trenker, Luis: Sein bester Freund, Spielfilm 1962 (Wiki)
  10. Oswald Oelz, Nadja Klier, Rupert Henning: Nordwand. Das Drama des Toni Kurz am Eiger. 1967
  11. Baur, Gerhard: Der Weg ist das Ziel - Die Eiger-Nordwand-Tragödie 1936. Bayerischer Rundfunk, Spielfilm 1981 oder 1986 (Film.at)
  12. Simpson, Joe: Drama in der Eiger-Nordwand. Dokumentarfilm, Discovery Channel, 2008 (Wiki) (Yt) Nach dem Buch desselben Autors "The Beckoning Silence" (dt.: "Im Banne des Giganten - Der lange Weg zum Eiger") (2003)
  13. Stölzl, Philipp: Nordwand. Spielfilm mit Benno Führmann, 2008 (Wiki) (Yt)
  14. Lukas Wieselberg: "Österreichische Legion" - Ein Ranking der Nazi-Dichte. In: science.ORF.at, 23.3.2011, http://sciencev2.orf.at/stories/1678805//index.html
  15. Brendel, Heiko: "Lieber als Kacake als an Hunger sterben". Besatzung und Widerstand im k. u. k. Militärgeneralgouvernement in Montenegro (1916-1918). Campus Verlag, Frankfurt/M. 2019 [Dissertation 2018 bei Sönke Neitzel, Potsdam] (GB
  16. Marcus Brotherton: Darrell “Shifty” Powers - Easy Company’s Sharpshooter. In: WarHistory2012

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