Ein Beitrag zum Verständnis des 9. Novembers 1923 und seiner Nachwirkungen
Eine zutreffende Einschätzung zu erhalten, aus welchen Beweggründen heraus am 9. November 1923 der Hitler-Ludendorff-Putsch durchgeführt worden ist, insbesondere, aus welchen Beweggründen in seinem Zusammenhang die entscheidenden Herren von Kahr, von Lossow und von Seisser gehandelt haben, ist heute sehr schwer. Die Gemengelage der Interessen war damals eine für den heutigen Betrachter sehr undurchsichtige. Als es dann nach dem Putsch zum Hochverratsprozess gegen Hitler und Ludendorff in München kam, waren in diesem - nach Meinung vieler Beobachter - die eigentlichen Angeklagten gar nicht Hitler und Ludendorff, sondern die nur als Zeugen vorgeladenen Herren von Kahr, von Lossow und von Seißer. Diese Einschätzung findet sich in heutigen Geschichtsbüchern aber nur sehr selten besonders deutlich wieder.
Im Jahr 1971 wurden aber in einer Dokumentation (17) Szenen aus dem Hochverratsprozess nachgespielt nur allein mit wörtlichen Ausschnitten aus den Gerichtsprotokollen. Sieht man sich diese eineinhalbstündige Dokumentation an, wird einem erst wieder die Berechtigung der genannten Meinung der Zeitgenossen bewusst.
Die Dokumentation macht deutlich, dass die Herren von Kahr, von Lossow und von Seisser selbst auf einen Staatsstreich und einen Putsch von Bayern aus gegen Berlin und gegen die Verfassung der Weimarer Republik hingearbeitet haben. Und wenn sie das getan haben, dann waren die "Putschisten" und "Hochverräter" Hitler und Ludendorff gar nicht solche, sondern handelten vielmehr im Einklang mit dem ihnen bekannten Willen der damaligen bayerischen Staatsregierung. Dies arbeitet die genannte Dokumentation heraus.
Und aus diesem Blickwinkel erhalten alle Vorgänge rund um den Hitler-Ludendorff-Putsch vom 9. November 1923 eine neue Beleuchtung und Bewertung. Dies sei zur Einleitung gesagt (die erst nachträglich, am 30.7.2016 zu diesem Artikel hinzugefügt wird [- mit Dank an einen befreundeten Blogger für den Hinweis auf diese Dokumentation]).
Heute ist überhaupt nur noch wenigen Menschen bewusst, welche Popularität Hitler und Ludendorff und ihre Ziele eben nicht nur unter den damaligen Menschen in Deutschland und vor allem auch in Bayern hatten, sondern eben auch in seiner Führungsschicht. Dass diese Popularität fortdauernd war und durch den Hochverratsprozess in München nicht litt, sondern eher noch gesteigert wurde, ist unter anderem auch ablesbar an dem Ergebnis der Landtagswahlen und der Reichstagswahl vom Frühjahr 1924 während des Hitler-Ludendorff-Prozesses in München, bzw. unmittelbar danach (17. Februar 1924 Landtagswahl in Mecklenburg, 6. April Landtagswahl in Bayern, 4. Mai Wahl zum deutschen Reichstag).
Der Zorn des "deutschen Volkswillens" im "Ruhrkampf"
Psychologisch nachvollziehbar wird diese Popularität zumindest in Teilen, wenn man sich nur allein von dem Aufruhr der Gefühle eines ganzen Volkes einen Begriff macht, der mit der militärischen Besetzung des Rheinlandes durch Frankreich ab dem 10. Januar 1923 verbunden gewesen ist. Einen Eindruck von
der Stimmung vor Ort in jenen Tagen verschafft einem ein Bericht aus dem Jahr 1930 jenes
Friedrich Grimm (1888-1959), der am 24. Januar 1923 die vor dem
französischen Kriegsgericht in Mainz angeklagten deutschen
Ruhr-Industriellen und -Beamten verteidigte. Die damals so genannten "Führer" des Ruhrkampfes. Dieser Bericht macht deutlich, daß hinter diesen Angeklagten das gesamte
deutsche Volk - von den Rechtsradikalen bis zu den Kommunisten - stand (12). Und das waren damals keine parteipolitischen Floskeln, sondern lebensechtes Geschehen. Dieser Bericht ist in seiner Gesamtheit sehr eindrucksvoll. Aber er zitiert auch die dänische Schriftstellerin
Karin Michaelis (1872-1950), die den 25. Januar 1923
in Essen miterlebt hat. Und dabei fließen derselben zum Beispiel ganz von selbst Redewendungen in die Feder wie
"der Volkswille wußte ..." oder
"unsichtbare Harfen, deren Saiten mit unsichtbaren Händen geschlagen wurden". Auch spricht sie von der
"kostbaren Ladung" eines Autos:
Heute wurden die so "gnädig" Bestraften" zurückerwartet.
Also die schließlich aus Furcht vor der Erregung der deutschen Bevölkerung nur zu Geldstrafen verurteilten Ruhr-Industriellen und -Beamten. Und zwar zurückerwartet vom Gerichtsort Mainz:
Heute um drei Uhr. Essen war nicht festlich geschmückt. Essen ist nicht die Stadt der Blumen - und Flaggen sind verboten. Ebenso wie Glockengeläute, wie das Absingen vaterländischer Lieder. Und doch war es ein Fest, von dem weit die Kunde gehen wird.
Henrik Ibsen erfand den Ausdruck: "Harfen in der Luft!" Das paßte hier. Unsichtbare Harfen, deren Saiten mit unsichtbaren Händen geschlagen wurden.
Vor dem Bahnhof, auf dem offenen, mächtigen Platz und in allen daran anstoßenden Straßen hatte sich eine Schar von ungefähr 100 000 Männern, Frauen und Kindern versammelt. Von diesen waren kaum zehn wohlgekleidet, kaum fünfzig wohlernährt. Die Bergleute hatten sich mit ihrer Minentracht geschmückt und standen oben auf der Eisenbahnbrücke. Nicht nur alle Fenster, Laternenpfähle, Balkons und Dachfenster waren mit Gesichtern gefüllt, man ritt auf den Dächern, hing aus den Türmen heraus.
Um 3 Uhr sollte der Zug kommen. Eine Viertelstunde später hieß es: Die Züge stehen auf der ganzen Linie still. Der Streik ist ausgebrochen. Kein Mensch rührte sich, um wegzugehen. Alle diese Tausende und Zehntausende wußten, daß, wenn auch kein Zug mehr nach Ost und West, Süd und Nord ging, der Zug, den man erwartete, noch kommen würde.
Ein feiner Staubregen ließ den Wartenden den Kohlenstaub ins Gesicht wehen. Die Menge ist nie schön. Die Menge hier ist ausgesucht unschön. Aber in den Augen aller brannte derselbe erhabene Feuergeist. Man hatte so lange gelitten und so viel. Man wollte sich das Glück eines Augenblicks nicht nehmen lassen, das Glück eines einzigen großen Augenblicks. Der Volkswille wußte, daß er diesmal gesiegt hatte, wenn auch der Sieg die Einleitung zu Tod und Verderben sein sollte. Sonst ist die Wartezeit lang. Hier liefen Hunderte von Minuten wie Sekunden. Diese Menge würde 24 Stunden gewartet haben, wenn es hätte sein müssen. Es fing an zu dunkeln, aber ehe die Finsternis kam, rollte der Zug ein.
Zehn Autos empfingen die kostbare Ladung. Als der erste der Zurückgekehrten aus dem Zug stieg, brauste es wie ein Donner vom Himmel, der Donner, der die Erde zittern machte und die Herzen erbeben ließ, der tausendfältige Hurraruf, der aus den rauhen und heiseren, matten und doch kraftvollen Kehlen kam.
Das war das Land selber, welches - lange gewohnt, nur zu stöhnen - einen Jubelruf gebar.
Jedes Auto war von berittener Polizei umgeben. Aber was nützte das? Die Menge scharte sich so fest und ergeben um den Wagen, daß es aussah, als würde er von Menschenhänden getragen. Kaum waren die Hurrarufe verklungen, als das von den Franzosen verbotene geliebte Lied: "Deutschland, Deutschland über alles" und "Die Wacht am Rhein" in die Dämmerung hinaus gejauchzt und geschluchzt wurde. Es war ja nicht nur das, daß die Führer wieder auf freiem Fuße waren. Wer weiß, wieviel Tage vergehen, bis sie wieder eingesperrt werden. Es war hier ein Volk, das sich selber der Eid schwur, einig und fest zu stehen bis zu letzten, bis zur allerletzten Stunde.
Und in genau dem gleiche Geist ist auch der Bericht jenes Friedrich Grimm gehalten, der schon vor 1933 Nationalsozialist werden sollte, während zur gleichen Zeit Karin Michaelis sich als Kriegsgegnerin und Gegnerin der Nationalsozialisten zu engagieren begann. Schon der unterschiedliche Lebensweg dieser beiden Berichterstatter zehn Jahre später macht deutlich, wieviele unterschiedliche Menschen sich im Jahr 1923 noch einig gewesen waren. Ein so starker Aufruhr der Gefühle, des patriotischen Zorns, der von Peter Sloterdijk in seinem Buch "Zorn und Zeit" nur bezüglich des sozusagen jüdischen (alttestamtentarischen) Patriotismus behandelt und analysiert worden ist, (noch) nicht bezüglich des Patriotismus jedes anderen Volkes, mußte in Deutschland noch lange nachwirken. Auch auf parteipolitischem Gebiet. Wer übrigens weiß, für wie lang ...? - Patriotischer Zorn kann über viele Jahrzehnte hinweg wie verborgen weiterwirken, wie Sloterdijk weiß. Eben: "Zorn und Zeit" ...
Der beträchtliche Wahlerfolg der völkischen Parteien im Frühjahr 1924
Der für die genannten Wahlen von 1924 antretende Listenzusammenschluß aus der norddeutschen "Deutschvölkischen Freiheitspartei" unter Albrecht von Graefe und der süddeutschen NSDAP unter Adolf Hitler, bzw. Gregor Strasser, benannt "Nationalsozialistische Freiheitspartei" - bzw. in Bayern und andernorts auch "Völkisch-(sozial)er Block" - erreichte jedenfalls vor allem in Mecklenburg und in Bayern aus dem Stand heraus zweistellige Prozentzahlen und wurde sowohl im Mecklenburger wie im Bayerischen Landtag aus dem Stand heraus zweit- bzw. drittstärkste Partei hinter der Deutschnationalen Volkspartei und der SPD (in Mecklenburg), bzw. hinter der Bayerischen Volkspartei und gleichstark mit der SPD (in Bayern).
Am 10. Februar 1924 bekamen die "Völkischen" in der Wahl in Lübeck 7,4 Prozent, am 10. April 1924 bekam die "Vereinigte Völkische Liste" bei der Landtagswahl in Thüringen 9,3 Prozent (
Wiki). Reichsweit erhielten die Völkischen in der Reichstagswahl vom 4. Mai 1924 6,6 Prozent der Stimmen, das ist deutlich mehr als die NSDAP noch im Jahr 1928 (wieder) bekommen sollte, als sie nur 2,6 Prozent der Stimmen erhielt! Erst im Jahr 1930 - und diesmal (!) offenbar mit kräftigsten Finanzhilfen - erreichte die NSDAP ein höheres Ergebnis als jenes vom Mai 1924. Und auf Wikipedia heißt es zur
Reichstagswahl vom 4. Mai 1924 zusätzlich:
Hätte die Wahl im Sommer oder Herbst 1923 stattgefunden, wäre der Erfolg der extremen Parteien wahrscheinlich noch um einiges deutlicher ausgefallen.
Das lag eben vor allem daran, daß das ganze Jahr 1923 geprägt war von der Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen, von seperatistischen Bestrebungen im Rheinland, in der Pfalz und - so vermuteten viele - auch unter den Monarchisten Bayerns. Es war geprägt von hohen Reparationsforderungen der ehemaligen westlichen Kriegsgegner und von einer immer rasender werdenden Inflation. All dies gab den völkischen politischen Vereinigungen und Kampfverbänden starken Auftrieb, zumal auch die "etablierten" rechtskonservativen Kreise sich diesem nationalen Sog, ja, dieser allgemeinen nationalen Empörung in Deutschland kaum entziehen konnten.
Ungenügende Bewertung der Eigenbedeutung des Hitler-Ludendorff-Putsches vom 9. November
Die Kulmination der Entwicklungen, der "Hitler-Ludendorff-Putsch" vom 9. November 1923, wird heute zumeist nur sehr plakativ im Rahmen der Vorgeschichte des Dritten Reiches behandelt. Dabei war er - wie auch am parallelen Geschehen des Ruhrkampfes ablesbar ist - wesentlich mehr, als bloß "Vorgeschichte". Er war Ausdruck einer Empörung weitester Kreise mit den Entwicklungen in Deutschland in jenem Jahr und der Versuch, diesen Entwicklungen gegenüber eine politische Wende einzuleiten.
Auch wird heute selten bewußt gemacht, wie eng die damaligen bayerisch-monarchischen Kräfte bis zum 9. November 1923 mit den bayerisch-völkischen Kräften zusammen gearbeitet haben, unter starken Spannungen zwischen beiden Kräfte. Es wird wenig bewußt gemacht, welche Ziele sie überhaupt verfolgt haben, und warum sich dann die monarchisch gesonnene bayerische Staatsregierung dennoch gegen den Hitler-Ludendorff-Putsch stellte, auf den sie ja letztlich selbst bis dahin hingewirkt hatte. So ist auch der diesbezügliche
Wikipedia-Artikel derzeit ziemlich kurz und deshalb unklar gehalten. Wichtige Personen wie der Kronprinz Rupprecht von Bayern sind in ihm gar nicht erwähnt. Dies gilt auch für den diesbezüglichen Artikel des "
Historischen Lexikons Bayerns", in dem ebenfalls die Rolle der damaligen staatlichen Kräfte Bayerns und der monarchischen Kräfte rund um den Kronprinzen Rupprecht kaum erwähnt wird. Allerdings wird das in diesem Lexikon durch andere Artikel ergänzt.
Auch etwa der Ludendorff-Biograph Manfred Nebelin hat schon in einer Studie aus dem Jahr 2000 in vielleicht sehr typischer Weise die Bedeutung des Hitler-Ludendorff-Putsches keineswegs treffend und differenziert genug gekennzeichnet, wenn er ganz pauschal von einem "Prestigeverlust" Ludendorffs durch den Putsch und den nachvollgenden Prozeß sprach (11, S. 248). - "Prestigeverlust" in vielerlei Kreisen der alten (monarchisch-klerikalen) Eliten für allerhand Jahre ganz bestimmt. Verlust an Popularität innerhalb der Wählerschaft Bayerns und Deutschlands allerdings offenbar keineswegs so rundweg, wie eine sehr oberflächliche Betrachtung das Glauben machen könnte.
Eine neue Biographie über den Kronprinzen Rupprecht von Bayern
Ebenso werden auch in den gegenwärtigen Wikipedia-Artikeln zu
Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869-1955) über dessen Rolle im Jahr 1923 kaum konkrete Angaben gemacht. Nun hat aber eine 2007 neu erschienene politische Biographie über diesen Kronprinzen (1) die damaligen, insgesamt gar nicht so leicht nachvollziehbaren politischen Verhältnisse und Entwicklungen, die zum 9. November 1923 führten, in vielen Aspekten besser verständlich gemacht, als das selbst einem geschichtlich Interessierten und besser Informierten bislang möglich gewesen ist.
Kronprinz Rupprecht von Bayern galt nämlich im Jahr 1923 als das Oberhaupt jener Kräfte in der damals so genannten "Ordnungszelle Bayern", die die Monarchie der Wittelsbacher wieder einführen wollten, und die Bayern entweder von Preußen abtrennen wollten ("Los von Berlin!") - oftmals nur vorübergehend - oder aber die sogar die Wittelsbacher - nach einem "Marsch auf Berlin" (das von "Erfüllungspolitikern" regiert wurde) - auf den deutschen Kaiserthron setzen wollten.
Damit ein solcher "Marsch auf Berlin" erfolgreich wäre, der sozusagen eine Wiederholung des Kapp-Putsches von 1921 bedeutet hätte, schien die damalige bayerische Staatsregierung unter
Gustav von Kahr auch gesonnen gewesen zu sein, die bayerische Reichswehr (unter General
Otto von Lossow) und die bayerische Polizei (unter
Hans von Seißer) gegen Berlin einzusetzen. Wie sich das auch monarchische Kräfte damals vorstellen konnten, ist dann auf der Proklamation des 9. November 1923 deutlich genug zum Ausdruck gebracht worden (Abb. 2).
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Abb. 2: Proklamation vom 9.11.1923 |
Erst in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 wandelten sich diese Putschisten in der bayerischen Staatsregierung zu jenen nichtputschenden, vorgeblich ganz passiven Kräften, als die sie heute vor der Geschichte zu stehen scheinen, die sie aber keineswegs bis zu diesem 9. November 1923 gewesen sind.
Die eigentlich treibenden politischen Kräfte im damaligen Bayern waren aber tatsächlich nicht die monarchischen Kräfte, sondern die dort damals sehr starken und umtriebigen völkischen Wehrverbände (vgl. z.B.
früherer Beitrag).
Die Wehrverbände in Bayern standen auch in Kontakt mit den völkischen Wehrverbänden in Norddeutschland. Diese Wehrverbände, als deren Oberhaupt in Bayern nun der General Erich Ludendorff galt, mißtrauten den Absichten der damaligen bayerischen Staatsregierung unter Gustav von Kahr und ihren monarchischen Bestrebungen, wie der damalige Wehrverbandsführer Hermann Göring noch 1946 in Nürnberg erklären sollte (siehe unten). Sie wollten sich nicht von dieser Regierung ausnutzen lassen, sondern vielmehr, wenn möglich - im Zuge eines bayerischen Putsches gegen Berlin - selbst das Ruder in die Hand nehmen.
Bis zum 9. November 1923 gingen aber die bayerisch-monarchischen und die bayerisch-völkischen Kräfte äußerlich eng zusammen, wie beispielsweise noch bei der Grundsteinlegung des Kriegerdenkmals vor dem Armeemuseum in München deutlich wurde, bei der die bayerische Staatsregierung und Kronprinz Rupprecht auch den Vorbeimarsch der völkischen Wehrverbände, unter anderem des Bundes Oberland, abnahmen (s. Abb. 9). Solche Umstände sind heute selbst geschichtlich Interessierten kaum noch bewusst.
Die genannte Biographie über den Kronprinzen Rupprecht ist in entscheidenden Passagen (1, S. 204 -222) eine gute Kommentierung der parallelen Ausführungen in den Lebenserinnerungen Erich Ludendorffs über dieselbe Zeit und dieselben Geschehnisse (2, 3).
"Generalfeldmarschall Rupprecht von Bayern" (1914 bis 1918)
Um sich die Stellung des Kronprinzen Rupprecht in der damaligen politischen Welt deutlich zu machen, ist es sicherlich sinnvoll, die vielen Photographien des "Generalfeldmarschalls Rupprecht von Bayern" (auf
Wiki Commons und anderwärts) auf sich wirken zu lassen. Sie machen dem Nachlebenden bewusst - was den Zeitgenossen von vornherein klar war -, dass sich der Kronprinz Rupprecht von Bayern - abgesehen von seinen Bezügen zum katholischen Klerus - spätestens seit 1914 als Oberbefehlshaber der "Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht" in sehr ähnlichem äußeren militärischen Rahmen und militärischen Bezügen bewegte wie General Ludendorff (vgl.
frühere Beiträge a,
b). Und dieser militärische Rahmen musste ja damals zwangsläufig sehr stark im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung stehen. So gibt es Fotografien von der Abnahme einer Parade am
28. August 1915 (
b), so
1916, fotografiert zusammen mit dem späteren NS-
Regisseur Karl Ritter, so beim Besuch des Königs von Sachsen
1917 (?) und beim Besuch des Kaisers im
Dezember 1917 an der Westfront.
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Abb. 4: Kronprinz Rupprecht, Ludendorff, Oberst Seisser - "Trauer-Gedenktag, München 1921" |
So auch - abgesehen von den Photographien dieses Beitrages - an der Feldherrnhalle in München am
15. Juni 1924, so öffentlich betend bei der 900-Jahr-Feier der Stadt Bamberg im
Juli 1924 zusammen mit dem Nuncius Pacelli (dem späteren Papst Pius XII.), so beim Deutschen Fliegergedenktag in Nürnberg im
Juli 1924 (
b) mit zehntausenden von Besuchern, so im
November 1924 (-
falsche Angabe, nicht mit Ludendorff!), bei der Enthüllung des Kriegerdenkmales in München am
14. Dezember 1924, so zusammen mit Generalfeldmarschall von Mackensen (
o.D.), so bei einer Langemarck-Gedenkfeier in München im
Dezember 1931. Und schließlich machen auch noch die Menschenmassen anläßlich seines 84. Geburtstages im Jahr
1953 deutlich, daß auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg der Kronprinz Rupprecht in Bayern keineswegs vergessen war (s.a.:
o.D.,
o.D.).
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Abb. 5: Kronprinz Rupprecht, Ludendorff, Oberst Seisser - "Trauer-Gedenktag, München 1921" |
Erich Ludendorff schrieb 1919 in seinen "Kriegserinnerungen" über Kronprinz Rupprecht, den er im Herbst 1916 an der Westfront genauer kennen lernte (16, S. 216):
Er war aus Pflichtgefühl Soldat. Seine Neigungen waren keine soldatischen. Er ging an seine hohe militärische Stellung und ihre Aufgaben mit großem Ernste heran und hat, gestützt auf seine vortrefflichen Generalstabschefs - zu Beginn des Krieges der bayerische General Krafft v. Dellmensingen und jetzt General v. Kuhl - den großen Anforderungen entsprochen, die an einen Oberbefehlshaber zu stellen sind. Ebenso wie der deutsche Kronprinz war der bayerische einer Beendigung des Krieges ohne jeden Gewinn zugetan, aber ob die Entente darauf eingehen würde, das wusste auch er nicht. Mein Verhältnis zum Kronprinzen von Bayern ist stets gut gewesen.
In seinen 1940 veröffentlichten Lebenserinnerungen für die Jahre 1919 bis 1925 schrieb Erich Ludendorff über Kronprinz Rupprecht (3, S. 141f):
Er war eine gute, fürstliche Erscheinung. (...) Der Kronprinz selbst war kein Feldherr von Geburt. Ich hatte immer die Empfindung, als ob die Führung der Heeresgruppe ihm eine schwer zu tragende Last sei. Gewiss sah auch ich die Lage ernst an. Es galt nur nicht in Pessimismus zu verfallen, wozu der Kronprinz neigte, sondern mit allen Kräften die Lage zu meistern. So bestanden zwischen dem Kronprinz und mir tiefe Gegensätze. (...) Ich selbst konnte in "Meine Kriegserinnerungen" die militärischen Fähigkeiten des Kronprinzen nur wahrheitsgemäß beurteilen.
Er berichtet dann weiter über eine Aussprache mit den Kronprinzen Rupprecht Anfang Januar 1921 (3, S. 143f):
Die Begrüßung war formell und kühl.
Man sprach noch einmal über verschiedene Operationen während des Ersten Weltkrieges, bei denen, so Ludendorff,
gegensätzliche Auffassungen zum Ausdruck kamen, die natürlich einen Ausgleich irgendwelcher Art nicht ergaben. Politische Verhältnisse wurden im allgemeinen nicht berührt. (...) Aus einer Bemerkung konnte ich entnehmen, dass der Kronprinz es lieber gesehen hätte, ich wäre nicht nach München gezogen.
Für das Jahr 1923 stellt nun der Biograph Dieter Weiß sehr klar die Gruppe um Ludendorff als den eigentlichen - völkischen - politischen Widerpart zu der monarchischen Gruppe um den Kronprinzen Rupprecht dar. Und auch Ludendorff selbst - wie auch Hermann Göring in Nürnberg 1946 - stellten die damalige Situation so dar. Was heißen würde, daß Adolf Hitler damals gar nicht die wichtigste Person in den Geschehnissen gewesen ist.
Der 5. November 1921: Ruft sich Kronprinz Rupprecht von Bayern zum König aus?
Schon über den 5. November 1921 schreibt der Biograph Weiß (9):
Weite Teile der bayerischen Bevölkerung und viele Politiker erstrebten in der Nachkriegszeit die Restauration der Monarchie, für die mit Kronprinz Rupprecht ein höchst qualifizierter und populärer Prätendent zur Verfügung stand. Einen ersten Höhepunkt erfuhren diese Bestrebungen am 5. November 1921 bei der Beisetzung des Königspaares in München. Der Kronprinz entzog sich jedoch der von breiten Kreisen erhofften Ausrufung der Monarchie.
Ludendorff gibt über dasselbe Ereignis in seinen Lebenserinnerungen folgende eindrucksvolle Darstellung (3, S. 174):
Am 18. 10. 1921 entschlief König Ludwig III. in Ungarn. Kronprinz Rupprecht war nun im Sinne des Legitimismus König von Bayern. Seine Bestrebungen gewannen dadurch an Bedeutung. Am 5. 11. 1921, also etwa drei Jahre nach der Vertreibung des Königs aus München durch Eisner und Genossen, fand die Totenfeier des Königs in München statt, wohin die sterblichen Überreste des Königs überführt waren, um dann gemeinsam mit der schon früher verstorbenen Königin in Wildenwarth, einem wittelsbachischen Besitz, endgültig beigesetzt zu werden. Die Feier gestaltete sich zu einer großen monarchischen Kundgebung. Es wurde von vielen erwartet, daß Kronprinz Rupprecht sich an diesem Tage als König von Bayern erklären würde. ich habe diesen Schritt nicht von ihm erwartet, dazu fehlte ihm die Entschlossenheit, auch war die Lage wirklich nicht dazu angetan. Er gehörte mehr zu den Fürsten, die von dem Volke gebeten werden wollten, die Regierung zu übernehmen. Der endlose Trauerzug bewegte sich von der Ludwigskirche durch die Straßen München nach der Frauenkireche. Ich schritt in ihm inmitten der bayerischen Generalität. die Straßen waren dicht von Leidtragenden umsäumt, die dem toten Könige mehr Teilnahme schenkten, als den Lebenden. Nach dem Pontifikalamt in der Frauenkirche verließ der Kronprinz schnell die Kirche. Die Fahnen des alten Heeres, die vor dem Sarge hergetragen wurden, waren nicht in die Kirche gefolgt, sondern in einer Aufstellung auf dem freien Platz vor der Frauenkirche geblieben. Die Begrüßung durch die Fahnen durch den Kronprinzen sollte nun der Augenblick sein, auf den die Monarchisten hofften. Ich war dem Kronprinzen aus der Kirche gefolgt und erwartete nun, was eintreten würde. Der Kronprinz grüßte die Fahnen mit seinem preußischen Marschallstab würdevoll, die Fahnen des alten Heeres senkten sich wie vor dem Landesherren, damit aber war die Szene zu Ende.
Korps Oberland hatte sich umsonst bereit gestellt, um einem etwaigen "Königsputsch" entgegenzutreten.
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Abb. 6: Ludendorff am 5.11.1921 umringt von höheren bayerischen Offizieren |
Auffallend und möglicherweise trotz allen bisher schon genannten Tendenzen auch erklärungsbedürftig erscheint, daß das Korps Oberland sich schon im Jahr 1921 einem "Königsputsch" hatte entgegenstellen wollen. Hatte man also von der Seite der völkischen Wehrverbände schon im Jahr 1921 den separatistischen und klerikalen Bestrebungen des Kronprinzen Rupprecht mißtraut?
Ein wichtiges Kapitel in der neuen Biographie lautet
"Politische Konzepte für eine föderalstische Neuordnung Mitteleuropas". Genau gegen solche Konzepte richtete sich damals das politische Wirken Ludendorffs ebenso wie das der völkischen Wehrverbände.
Aus Sicht der betont bayerischen Katholiken um den Kronprinzen Rupprecht mußte in Bayern ein Gegengewicht gegen die politischen Kräfte rund um Ludendorff geschaffen werden. Die Biographie gibt einem ganz gut - und vielleicht zum ersten mal - ein Gespür für die politische Wucht und Kraft, die damals hinter den völkischen Verbänden in Bayern stand, bzw. als wie sie von der Gegenseite aus wahrgenommen worden ist. Andere Veröffentlichungen, selbst in der geistigen Tradition Ludendorffs stehend (4), waren bislang keineswegs in der Lage, von dieser politischen Wucht und Kraft einen Eindruck zu vermitteln.
Schon als sich der bayerische Ministerpräsident Heinrich Held kurz vor Weihnachten 1924, als Hitler ihn kurz nach seiner Haftentlassung besuchte, danach erkundigte (5, zit. n. 4, S. 98),
Das Scheitern des Putsches von 1923 konnte Hitler dann jedenfalls auch gut zum Anlaß nehmen, im Geheimen die dafür Schuld Ludendorff zuzuschieben, und sich selbst mit jenen Kräften "wieder" gutzustellen, gegen die nach dem Verständnis Ludendorffs dieser Putsch vor allem gerichtet gewesen war.
Der Vorwurf des Separatismus gegen den Kronprinzen Rupprecht
In der neuen Biographie wird Rupprecht vor den Vorwürfen Ludendorffs aus dem Jahr 1923 in Schutz genommen, die Ludendorff dann auch noch in seinen Lebenserinnerungen aufrecht erhält (1, S. 205):
Immerhin hat der Biograph Weiß von vielen Menschen im Umfeld des Kronprinzen zu berichten, die mit verschiedenen politischen Modellen diesbezüglich an den Kronprinzen Rupprecht herangetreten sind. Es kann also nicht gesagt werden, daß Kronprinz Rupprecht solche Modelle von vornherein zurückgewiesen hätte. Er hat sich über diese politischen, seperatistischen Modelle mit sehr vielen Menschen über längere Zeiträume hinweg unterhalten und auseinandergesetzt. Sonst hätte Weiß darüber in seiner Biographie nicht so viel zu berichten. Obwohl Rupprecht in der Öffentlichkeit alle separatistischen Absichten immer wieder entschieden abstritt, so schreibt Weiß (1, S. 205f),
Weiß spricht dann von "nur einzelnen Gruppen", die solche Bestrebungen "zeitweise" auch im persönlichen Umfeld des Kronprinzen Rupprecht vertreten hätten. Er versucht also, ihre Bedeutung als möglichst herunterzuspielen. Allerdings scheint bei solchen Einschätzungen doch wohl noch mancher Spielraum offen zu bleiben. Ohne auf die vielen hier zu behandelnden Details einzugehen, sei hier nur darauf hingewiesen, daß Weiß eben doch über viele Bestrebungen zu berichten hat, etwa auch (1, S. 207):
Der Sanitätsrat Otto Pittinger (1878 - 1926) (6) galt als einer der Führer der moderat-rechten Kräfte in Bayern und sollte sich am 9. November 1923 schließlich auch auf die Seite der Regierung von Kahr stellen. Wer die Politik des nationalistischen Frankreich jener Jahre kennt, wird eigentlich kaum Zweifel haben können, daß es schon damals - wie 1939 und 1945 wieder - Pläne zur Teilung Deutschlands gegeben hat, die sich dann nicht nur auf das Rheinland, sondern auch auf Bayern bezogen haben mußten. Das liegt eigentlich in der Logik der damals vertretenen politischen Bestrebungen. Ebenso liegt es in der Logik dieser politischen Bestrebungen, daß diese verdeckt verfolgt werden mußten, wenn man nicht noch mehr "völkische" Empörung gegen diese in Deutschland aufrühren wollte.
(Zu den damaligen bayerischen, separatischen Bestrebungen siehe auch [14, 15]. - Es dürfte übrigens nicht ganz ohne Interesse sein, darauf hinzuweisen, daß bedeutende deutsche Nachkriegspolitiker aus dem Umfeld dieser damaligen separatistischen Bestrebungen hervorgegangen sind. So der frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer oder auch Franz Josef Strauß, der aus einer betont bayerisch-partikularistisch-klerikal gesonnenen Familie stammte.)
Die bayerische Staatsregierung steht gegen die deutsche Reichsregierung