Sonntag, 28. Januar 2018

"Quelle aller Variation ist das Erlebnis"

Vor hundert Jahren 
- Die Gedanken des Schweizer Wissenschaftsjournalisten Adolf Koelsch (1917/1919) über Evolution und ihre Rezeption durch Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke und Thomas Mann

Im weiteren Sinne ist Thema dieses Blogs die Geschichte des naturwissenschaftsnahen Philosophierens im 20. Jahrhundert. Die Psychiaterin Mathilde von Kemnitz, spätere verheiratete Ludendorff (1877-1966) (Wiki) setzte im Jahr 1921 mit ihrem Buch "Triumph des Unsterblichkeitwillens" das naturwissenschaftsnahe Philosophieren ihrer Zeit fort, indem sie sich mit Grundgedanken der Evolutionstheorie von Charles Darwin auseinander setzte (1). Die zentrale Frage in ihrem Buch war für sie - wie für viele Zeitgenossen: Wie sind neue Pflanzen- und Tier-Arten in der Evolution entstanden? Waren so nüchterne Vorgänge wie Zufallsmutation und nachherige Auslese nach dem Nützlichkeits-Prinzip, bzw. dem Überlebensvorteil wirklich die einzigen Antriebskräfte der Evolution und der Artbildung? In ihrem Buch wurde diese These von Charles Darwin grundlegend infrage gestellt. Dieser These wurde ein neuer philosophischer Entwurf gegenüber gestellt, der auch vielfältige Schlußfolgerungen in Richtung auf die naturwissenschaftliche Forschung enthält.


Abb. 1: Adolf Koelsch (1879-1948), Wissenschaftsjournalist der "Neuen Züricher Zeitung"

In letzter Instanz ging es auch in diesem philosophischen Entwurf darum, dem Seelischen, dem Erleben des Wahren, Guten und Schönen in der Menschenseele einen Platz zu geben in der Evolution. Und zwar - so wie im Kulturleben - auch im naturwissenschaftlichen Denken einen zentralen und nicht nur randständigen. Das Erlebnishafte, das Seelische ist nach der Deutung von Mathilde von Kemnitz die Hauptantriebskraft der Evolution, sowie Ziel der Evolution. Die Nützlichkeitsprinzipien und Überlebensvorteile im rauen, nüchternen "Kampf ums Dasein" des Charles Darwin (aus denen dann ja auch der folgenschwere Sozialdarwinismus folgte) spielen nach dieser Deutung nur noch Nebenrollen, nicht die Hauptrolle.

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Titelseite

Nun war Mathilde von Kemnitz mit solchen Anliegen zu ihrer Zeit - natürlich - nicht die einzige. Und im vorliegenden Blogbeitrag soll auf zeitlich parallele Auseinandersetzungen mit solchen Problemen hingewiesen werden. Auf Auseinandersetzungen, die offenbar auch aus ähnlichen Motiven gespeist gewesen waren, und die deshalb Aufmerksamkeit gefunden haben unter Schriftstellern jener Zeit.

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Inhaltsverzeichnis

Im verregneten August 1917 saß der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) (Wiki) im Rilke-Turm auf Gut Böckel in Westfalen. Er blätterte in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift "Die neue Rundschau". Dabei stieß er auf einen Aufsatz, der ihn begeisterte (2, S. 565). Er war betitelt "Der Einzelne und das Erlebnis" (3). Der Aufsatz war mit dem Problem der Artbildung in der Evolution befaßt und stammte von dem Deutsch-Schweizer Biologen und Wissenschafts-Journalisten Adolf Koelsch (1879-1948) (Wiki). Zu dem gleichen Thema hat Koelsch zwei Jahre später ein ganzes Buch herausgebracht unter dem Titel "Das Erlebnis" (7). Adolf Koelsch war seit 1915 verantwortlich für die Naturwissenschafts-Kolumne der "Neuen Züricher Zeitung". Er sollte dies 33 Jahre lang bleiben, nämlich bis zu seinem Tod im Jahr 1948 (4). Er gab zahlreiche Sachbücher über die Biologie der Pflanzen und Tiere heraus. Die Einleitung des genannten Aufsatzes von 1917, den Rainer Maria Rilke da im verregneten August 1917 auf Schloß Böckel las - während in Flandern und bei Verdun die Trommelfeuer auf tausende von Soldaten niedergingen - beginnt mit den Worten (zit. n. 5):
Es handelt sich um die Frage, wie ein Geschöpf in den Besitz einer Fähigkeit kommen kann, die es vorher nicht hatte. Wie es möglich ist, daß es in seiner Verhaltensweise gegenüber der Welt abweicht von dem, was es war, und sich verwandelt in etwas Neues. Das heißt: variiert. Und was als Grundlage dieser Variation, ja schließlich als Grundlage aller Hinausentwicklung über Bestehendes zu betrachten sei. Ich behaupte: die Quelle aller Variation ist das Erlebnis.
Rainer Maria Rilke durfte durchaus gepackt sein, wurde doch hier in der Biologie etwas in das Zentrum der Artbildung, Evolution und Höherentwicklung gestellt, das auch ihm als Dichter und Kulturschaffenden von der höchsten Bedeutung war, nämlich das Erlebnis. Und es wird sofort deutlich, daß sich hier bei Adolf Koelsch und Rainer Maria Rilke Parallelen in den Motiven zum Denken der genannten Mathilde von Kemnitz vorlagen, das sich nur wenige Jahre später mit den gleichen Problemen beschäftigen sollte.

Rainer Maria Rilke schreibt an Jacob von Uexküll (1917)


Nach der Lektüre dieses Aufsatzes setzte sich Rainer Maria Rilke hin und schrieb einen Brief an den damals berühmten deutschen Biologen Jakob von Uexküll. Bei ihm handelte es sich um eine Kapazität, mit der Rilke schon zuvor persönlich bekannt geworden sein muß. Der Brief datiert auf den 17. August 1917 und beginnt (5):
Lieber Freund, sagen Sie, hab ich Recht, über diesen neuen Aufsatz von Adolf Koelsch im Augustheft der Rundschau so herzlich entzückt zu sein? Er scheint mir neben Ihren Schriften, die ich doch viel zu wenig kenne, das ....
beste an lebenswissenschaftlicher Literatur zu sein, das ihm in letzter Zeit begegnete. Rilke trug sich in dieser Zeit mit dem Plan, sich als Student an einer Universität einzuschreiben. Und dieser Aufsatz regte ihn dazu an, Biologie zu studieren (5):
Hätten Sie einen Rat für mich, der mich zu einer tätigen Berührung und Befreundung mit den Gegenständen dieser köstlich jungen Biologie zuwiese ...? (...) Wo mag Adolf Koelsch sein? (...) anderen früheren Essay, auf den Koelsch selbst hinweist: Die Erschaffung ....
Rilke ist also Feuer und Flamme. Leider kann sin Brief hier einstweilen nur insoweit zitiert werden als er im Internet zugänglich ist. In der Antwort scheint von Uexküll von einem regulären Studium an einer Universität abgeraten zu haben (nach 6, S. 238 [Rückübersetzung]):
Daß Sie ein außergewöhnliches Talent für Biologie und besonders für vergleichende Psychologie haben, wird durch Ihr Gedicht "Der Panther" deutlich. Die Beobachtung, die Sie dort beschreiben, ist meisterhaft. Vielleicht könnten Sie einen Philosophen der psychologischen Schule hören, aber ich glaube, daß Sie schon zu sehr ein Meister sind, um noch Student sein zu können.
Rilke hat den Gedanken eines regulären Biologie-Studiums dann wohl auch nicht mehr weiter verfolgt. Im weiteren Verlauf konnte er dann eine persönliche Verbindung mit Adolf Koelsch aufnehmen. Und nachdem Rainer Maria Rilke am 11. Juni 1919 von dem revolutionär und gegenrevolutionär aufgewühlten München aus in die Schweiz abgereist war, wo der bis dahin viel Reisende nun bis an sein Lebensende bleiben sollte, konnte er am 18. Juli 1919 in Zürich auch Adolf Koelsch als Besucher empfangen (2, S. 640).

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Vorwort

Am 2. November 1919 konnte Rilke einen Gegenbesuch bei Adolf Koelsch in Rüschlikon machen. Rilke hat sich damals wiederholt mit seinem Gedanken von einem "Urgeräusch" beschäftigt. Bei diesem Besuch wurde davon gesprochen, ein "Ur-Geräusch-Experiment" durchzuführen (2, S. 653). (Ob dieses Thema im Zusammenhang mit dem allgemeineren Problem der Artbildung steht, wäre noch zu prüfen.) Am 13. Januar 1920 schreibt Rilke dann an eine ihm bekannte Frau Nölke von dem neuen Buch von Adolf Koelsch, "das sehr wichtig ist" (2, S. 667). Da der Inhalt dieses Buches heute noch nicht im Internet zugänglich ist, soll er in Auszügen in diesem Blogbeitrag durch Abfotografieren einiger der wichtigsten Seiten dokumentiert werden. Auf diesen Seiten gewinnt man einen ersten Eindruck von der Art des Denkens des Adolf Koelsch in diesen Fragen.

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 340f

Deutlich wird zum Beispiel, daß sich in jener Zeit zwar gerade die Chromosomen-Theorie der Vererbung (Wiki) durchzusetzen begann in der Wissenschaft, daß sie aber noch nicht die Grundlage zum Denken von Koelsch lieferte. Er spricht diesbezüglich nur ganz allgemein vom Protoplasma. Insgesamt wird aber womöglich durchaus gefragt werden können, ob dieser Gedanke vom Erlebnis als dem grundlegenden Moment der Artbildung nicht im Zusammenhang mit dem Plasticity-first-Modell der Evolution gewissermaßen eine Wiederbelebung erfahren hat (8).

In diesem Zusammenhang dürfte auch von Interesse sein, daß Rainer Maria Rilke nicht der einzige Schriftsteller gewesen ist, dem der Aufsatz von Koelsch des Jahres 1917 ins Auge gefallen war. Auch etwa Thomas Mann hatte diesen Aufsatz gelesen und hat ihn später in seinem Roman "Der Zauberberg" verarbeitet (9).

Einstweilen gibt es keinen Hinweis darauf, daß auch die damalige Mathilde von Kemnitz - oder die spätere Mathilde Ludendorff - den Aufsatz von Adolf Koelsch aus dem Jahr 1917 zur Kenntnis genommen hat. Das Literaturverzeichnis ihres während des Zweiten Weltkrieges erarbeiteten Buches "Wunder der Biologie im Lichte der Gotterkenntnis meiner Werke" (10) ist unterteilt in "Fachwerke", "Laienbücher" und "Abhandlungen in Fachzeitschriften". Nirgendwo ist hier ein Aufsatz oder eine Schrift von Adolf Koelsch angeführt. Fachzeitschriften hat sie erst ab dem Jahrgang 1926 durchgesehen. Im übrigen ist die "Neue Rundschau" ja auch keine biologische Fachzeitschrift gewesen.

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 342f

"Die Ursprünge des Produktiven"


Den "Ursprüngen des Produktiven" sind Koelsch und Rilke in den Folgejahren auch noch in ganz anderen Zusammenhängen nachgegangen. Am 8. September 1921 sandte Rilke an Lou Andreas-Salome einen neuen Artikel von Koelsch aus der "Neuen Züricher Zeitung" zu über ein Buch des Psychiaters Walter Morgenthaler (1882-1965) (Wiki). Dies behandelte die Krankengeschichte seines langjährig künstlerisch tätigen Schizophrenie-Patienten Adolf Wölfli (1864-1930) (Wiki) (11, 12). Koelsch schrieb bald nach Erscheinen (13, zit. n. 12):
Wo ist nicht ein Irrenhaus, das nicht solche Kranke hätte? Kranke, die in der Einbildung leben, große Künstler zu sein, und auf irgend eine Weise "an ihrem Werk" sind? (...) [Wölfli] ist wirklich ein besonderer Fall und verdient seinem ergreifenden menschlichen Schicksal nach auch als pathologisches Vorkommnis und als bildender Künstler durchaus die Monographie, die ihm der Berner Privatdozent Dr. W. Morgenthaler soeben gestiftet hat.
Koelsch spricht von Bildwerken,
die man mit gutem Gewissen als vollendete Kunstwerke bezeichnen kann.
Koelschs zwei ausführliche Artikel machten das Buch und den Künstler Wölfli in weiteren Kreisen bekannt. Und auch Rilke schrieb an Lou Andreas-Salome (2, S. 740):
der Fall Wölfli's wird dazu helfen, einmal über die Ursprünge des Produktiven neue Aufschlüsse zu gewinnen.
Das Buch hat damals weltweites Aufsehen erregt, wobei die Besprechung durch Koelsch einen maßgeblichen Anteil hatte (12). Insgesamt hat jedenfalls der Grundgedanke vom Erlebnis als "Quelle aller Variation" gerade auch vor dem Hintergrund der neuesten Entwicklungen in der evolutionären Forschung (8) etwas Bestechendes.

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 136f

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  1. Ludendorff, Mathilde: Triumph des Unsterblichkeitwillens. Erstauflage 1921
  2. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Erweiterte Neuausgabe, hrsg. von Renate Scharffenberg. Insel, Frankfurt am Main/Leipzig 2009
  3. Koelsch, Adolf: Der Einzelne und das Erlebnis. In: Die neue Rundschau, Berlin 1917, S. 1077-1100 (auch als Einzelschrift im selben Jahr bei S. Fischer Verlag, Berlin erschienen)
  4. Adolf Koelsch. http://www.linsmayer.ch/autoren/K/KoelschAdolf.html
  5. Rilke, Rainer Maria: Briefe von Gut Böckel - 24. Juli- 2. Oktober 1917. Einleitung von Theo Neteler. Pendragon Verlag, Bielefeld 2011 (GB)
  6. Fischer, Luke: The Poet as Phenomenologist. Rilke and the New Poems. Bloomsbury 2017 (GB
  7. Koelsch, Adolf: Das Erlebnis. S. Fischer Verlag, Berlin 1919
  8. Bading, Ingo: Epigenetik und die Evolution der Instinkte - Die neu aufgeworfene Frage: Sind Instinkte wirklich durch Punktmutationen entstanden oder nicht doch eher durch "phänotypische Plastizität"? Studium generale, 7. Oktober 2017, http://studgendeutsch.blogspot.de/2017/10/sind-instinkte-durch-punktmutationen.html
  9. Heimendahl, Hans Dieter: Kritik und Verklärung. Studien zur Lebensphilosophie Thomas Manns in den "Betrachtungen eines Unpolitischen", "Der Zauberberg", "Goethe und Tolstoi" und "Joseph und seine Brüder". (Diss. Berlin 1995) Königshausen & Neumann, Würzburg 1998 (GB)
  10. Ludendorff, Mathilde: Wunder der Biologie im Lichte der Gotterkenntnis meiner Werke. 1. Band, Verlag Hohe Warte, Stuttgart 1950; 2. Band, Verlag Hohe Warte, Pähl 1954
  11. Morgenthaler, Walter: Ein Geisteskranker als Künstler (Adolf Wölfli). Bern 1921, Nachdruck: Wien 1985
  12. Pallmert, Sigrid: Adolf Wölfli und Walter Morgenthaler oder der Beginn der Rezeption der Kunst der Geisteskranken. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 50, 1993, Heft 3, file:///C:/Users/User/Downloads/zak-003_1993_50__447_d.pdf
  13. Kölsch, Adolf: "Dämon I. und II.", in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1243, 30.8.1921 u. Nr. 1249, 31.8.1921. Wiederabdruck in: Der Engel des Herrn im Küchenschurz. Über Adolf Wölfli, hg. Elka Spoerri, Frankfurt am Main 1987)



Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 138f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 140f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 142f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seite 1

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 2f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 4f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 6f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 374f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 386f

Abb.: Adolf Koelsch - Das Erleben - 1919, Seiten 388f

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