Samstag, 1. September 2012

Mein Opa - ein gewöhnlicher Ludendorff-Anhänger als Beispiel

Wie mein Opa Ludendorff-Anhänger wurde 
- Oder: Beim Blättern in alten Familienalben

Es entsprach dem Selbstverständnis der Ludendorff-Bewegung - als Teil der völkischen Bewegung -, daß in ihr alle "Stände" und Bevölkerungsschichten vertreten waren. Zahlreiche Bauern fühlten sich von ihr ebenso angezogen wie Juristen, Ärzte und Akademiker vieler Fachrichtungen, Volksschullehrer standen in ihr neben Schmiedemeistern, Beamte neben Arbeitern.

Da uns über die Biographie eines einzelnen, "gewöhnlichen" Ludendorff-Anhängers besonders viel Material vorliegt (1), soll diese exemplarisch in diesem Beitrag vorgestellt werden. Es handelt sich um die Biographie des Opas väterlicherseits des Verfassers dieser Zeilen.

Und um der Authentizität willen macht es sicherlich Sinn, daß wir auch persönliche Erinnerungen an ihn  aus der eigenen Kindheit mit einfließen lassen. Mein Opa Otto Bading lebte von 1906 bis 1979. Er stieß "erst" im Jahr 1936 zur Ludendorff-Bewegung. Zu diesem Zeitpunkt war er schon seit 1927 Mitglied der NSDAP gewesen und Träger des "Goldenen Parteiabzeichens". - - -

Abb 1: Mein Opa Otto Bading in den 1930er Jahren

Er war also kein "alter Tannenberger", wie dies für so viele Ludendorff-Anhänger galt, die - mit ihrem ausgeprägten politischen und wenig ausgeprägten philosophischen Interessen - auch noch lange nach 1945 die Ludendorff-Bewegung zahlenmäßig bestimmten. Diese hatten irgendwann im Jahr 1927 oder 1928 von Erich Ludendorff gehört und von seinem Kampf gegen die Freimaurerei. Sie hatten die damaligen großen Vortragsveranstaltungen besucht mit tausenden von Zuhörern. Und sie waren von den beiden Vorträgen des Ehepaares Ludendorff mitunter so erschüttert gewesen, daß sie beherzte und forsche Anhänger dieses Ehepaares Ludendorff wurden. Sie hätten von sich gesagt, daß ihre Volksseele durch Erich und Mathilde Ludendorff angesprochen war, daß die Todesnot der Volksseele in ihren sprach, als sie sich von dem Geistesgut und dem Geisteskampf beider beeindrucken oder gar erschüttern ließen.

Abb. 2: Mein Opa mit dem Hanomag-Trecker vor der Scheune

Aber es gibt auch Biographien von Menschen, die erst Mitte der 1930er Jahre zur Ludendorff-Bewegung stießen. Und die Biographie eines solchen soll im folgenden zur Darstellung gebracht werden. 

Wenn ich dabei über die "persönlichen" Beziehungen meines Opas zum Gedankengut des Hauses Ludendorff wenig mitteilen kann, so liegt das einfach daran, daß ich erst zwölf Jahre alt war, als er starb. Zu jenem Zeitpunkt war ich noch nicht alt genug, um mich mit ihm über Politik oder weltanschauliche Fragen unterhalten zu können. Zu dieser Frage ist aber drei Jahre nach Veröffentlichung des vorliegenden Blogartikels ein weiterer Blogartikel erschienen (StgrNat2015).

Abb. 3: Mein Opa mit seinen Pferden (womöglich am Revers das Parteiabzeichen)

Es ist im folgenden größtenteils zunächst einfach eine gewöhnliche Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Sie weist dann schließlich nur die Besonderheit auf, daß hier eine Familie teilnahm an der ersten wirklich großen deutschen  Kirchenaustrittsbewegung (Wiki) des 20. Jahrhunderts, nämlich derjenigen der Jahre 1936 bis 1940, einer Kirchenaustrittsbewegung wie sie in Deutschland - vom rein quantitativen Umfang her - erst wieder im Jahr 1968 und danach erreicht worden ist.

Mein Opa wurde im Jahr 1906 in Bahnitz an der Havel geboren, einem Dorf etwa auf halbem Weg zwischen Brandenburg und Rathenow. Dieses Dorf liegt etwa achtzig Kilometer westlich von Berlin am Rande des heutigen Naturschutzgebiet Westhavelland. Es kann als sehr "abgelegen" bezeichnet werden. Es führt eine Autostraße hinein - aber keine hinaus. Die Straße endet an der Havel. Heute führt ein ruhiger Fernradweg am Dorf vorbei.

Abb. 4: Hof Bading in Bahnitz (neben dem Haus die Autogarage)

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war mein Opa acht Jahre alt. Mein Opa hat - meines Wissens - nie davon erzählt, wie er den Ersten Weltkrieg erlebt hat. - Wie Kinder seiner Generation die Zeit des Ersten Weltkrieges erleben konnten, geht vielleicht ganz gut hervor aus einem Buch des friesischen Schriftstellers Gustav G. Engelkes (1905-1973) "Weltkrieg brennt in Jungenherzen" (5). Engelkes war fast gleichen Jahrgangs wie mein Opa und es gibt auch noch weitere Parallelen in beider Leben. Sie traten beide 1935 aus der Kirche aus. Und auch Gustav G. Engelkes sympathisierte - wie mein Opa - ab dieser Zeit mit der Ludendorff-Bewegung. Engelkes veröffentlichte im Ludendorffs Verlag und in Verlagen, die diesem nahe standen, viele Romane und Erzählungen. 1938 veröffentlichte er auch eine Schrift über den "Deutschen" Ludendorff ("Dank an einen Großen. Weckruf an das Volk. Eine Dichtung"). 

Ein abgelegenes Dorf im Westhavelland

Als junger Mann war mein Opa dann Mitglied des damals bestehenden Turnvereins in Bahnitz. Es gibt Fotos, auf denen er mit anderen stolz, stramm und selbstbewußt in Turnkleidung zu sehen ist. Da es solche auch von meiner Oma gibt, die in einem ganz anderen Dorf aufgewachsen ist, scheint das Turnen nach dem Ersten Weltkrieg eine weit verbreitete Vereinstätigkeit auf den damaligen Dörfern gewesen sein. Womöglich sollte sie den Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht kompensieren, die dadurch zustande gekommen war, daß Deutschland nach dem Versailler Vertrag nur ein "Hunderttausend-Mann-Heer" von Berufssoldaten besitzen durfte.

Abb. 5: Meine Oma Johanna Bading in Bahnitz - Im Hintergrund der Obstgarten mit Hausgänsen

Mein Opa war Bauer. Soweit sich die Stammbäume meines Opas und meiner Oma zurückverfolgen lassen, nämlich bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, waren alle ihre Vorfahren Bauern und Müller. Und sie lebten alle im Umkreis von höchstens 50 Kilometern von Bahnitz entfernt. Das war also seit Jahrhunderten eine kleine, abgeschiedene Welt für sich.

Daß in dieser Region Otto von Bismarck zum Abgeordneten des preußischen Landtages gewählt worden war und daß aus ihr mancher Beamte, Minister, General oder Industrielle des preußischen Staates hervor ging, wird den Bauern auf den Dörfern gar nicht bewußt gewesen sein. Carl Bolle (Wiki) etwa, ein bedeutender Unternehmer im aufstrebenden Berlin Ende des 19. Jahrhunderts, war in dem dem nahegelegenen Milow groß geworden. Seine dort erhaltene Villa (heute Jugendherberge) stellte Bolle seinen Mitarbeitern zur Erholung zur Verfügung.

Die großen Bauern in den Dörfern der Mark Brandenburg stammten im Wesentlichen wohl von den flämischen Siedlern ab, die der Erzbischof von Magdeburg und die brandenburgischen Herzöge im Hochmittelalter in das Land gerufen hatten. (Man vergleiche dazu noch den heutigen Namen des Höhenzuges "Fläming".) Die älteste Ansiedlungsurkunde in dieser Region ist für das Dorf Wusterwitz erhalten, das ganz in der Nähe liegt, und wo die Schwester meines Opas lebte. Dörfer mit dem Namen Badingen gibt es in der Nähe der Stadt Stendal ebenso wie in der Nähe von Zehdenick an der Oberhavel. Es ist nahe liegend, daß der Familienname mit ihnen in Verbindung entstanden ist.

Abb. 6: Mein Opa (ganz rechts) im Schleusen-Gasthof beim Skatspielen, zweiter von links sein (späterer) Schwager Paul Puhlmann (damals aus Briest, später wohnhaft in Ingolstadt), diesem gegenüber dessen Bruder Erich Puhlmann

Mein Opa war also in erster Linie Bauer. Wie alle seine Vorfahren. "Schlipfs Handbuch der Landwirtschaft", mit dem er 1923 ein Jahr lang an der Landwirtschaftsschule in Oranienburg die damals "moderne" Landwirtschaft erlernte, befindet sich noch heute im Familienbesitz (2, 3). Wenn man sich recht erinnert, erzählte er, daß er von Bahnitz mit dem Fahrrad nach Oranienburg gefahren sei.*)

Abb. 7: Fotografie eines "Dixi" (als Beispiel) (Pressefoto: "Hitzetag in Berlin, Juni 1935 - Mann kühlt Auto mit Wasser") (Wiki)

Mein Opa war einer der ersten Bauern im Dorf, der die jeweils modernen, neuen Maschinen anschaffte. Und er war auch einer der ersten, der 1928 den Führerschein machte und sich ein Auto erwarb. Einen "Dixi" (Wiki) (s. Abb. 7, s.a.  [Wiki]).

Der ganze Stolz der großen Bauern auf den Dörfern der Mark Brandenburg - der Hof meines Opas hatte 44 Hektar - waren die Pferde (siehe Abb. 3). Mit Verwunderung hörte man davon, daß in anderen Teilen Deutschlands noch mit Kühen gepflügt wurde.

Abb. 8: Mein Opa mit seinen beiden ältesten Kindern vor seinem Haus (um 1935)

Damals gab es noch keine gepflasterten "Bürgersteige" neben der Dorfstraße. Bei Regen standen große Pfützen vor den ausgefahrenen Hofeinfahrten - wie auf alten Fotos zu sehen ist (Abb. 4). Mein Opa heiratete im Jahr 1932 eine Bauerntochter aus dem nahe gelegenen Dorf Zollchow. Nämlich meine Oma Johanna Bading (1910-1985) (6). Noch im hohen Alter las sie gern "Kartoffeln mit Stippe" oder sah sich Fontane-Verfilmungen an (etwa: "Vor dem Sturm"). Weil sie in diesen die Welt ihrer ersten Lebenshälfte, jener bis 1945 wieder fand. Auch schenkte sie mir den Roman "Meines Vaters Pferde" von Clemens Laar und andere Pferde-Bücher, in denen sich diese Welt wiederspiegelte. Das war in etwa die Welt, in der auch meine Oma aufwuchs. Auf dem Gut in der Nähe des Dorfes Zollchow lebte die Familie von Katte, die bei den Bauern angesehen war, und von der auch meine Oma nie so sprach, als würde sie von gewöhnlichen Bauern sprechen.

Abb. 9: 25. Mai 1935 - Mein Opa wird Mitglied im "BfG (L)"

Wie so häufig in der damaligen bäuerlichen Welt weigerte sich der Vater meines Opas, ein Gustav Bading, lange, den Hof zu übergeben. Aus Trotz ging mein Opa 1927 - damals ein junger, stürmischer Mann - für einige Zeit nach Sachsen, um dort in der Industrie zu arbeiten. Zuerst war er als Wirtschaftsgehilfe in Thießen bei Wittenberg tätig, dann in einer Fabrik in Glauchau in Sachsen. Dort lernte er die NSDAP kennen und trat ihr 1928 bei.

Endlich übergab sein Vater 1928 den Hof und mein Opa konnte heiraten. Das war 1932.

1932 - Im Wahlkampf

In jener Zeit war mein Opa in den Wahlkämpfen der NSDAP engagiert. Er hatte seinen "Dixi" über und über mit Wahlkampfplakaten beklebt und fuhr so über die Dörfer. Wenn er Kommunisten begegnete, warfen diese ihm Steine hinterher. Mein Opa war aber ein ganz jovialer Mensch. Ihm machte das wenig aus. Noch heute erzählt der hochbetagte Hausnachbar, der damals ein halbwüchsiger Junge war, daß sie meinem Opa heimlich, wenn er mit seinem Hinterrad-Antrieb losfahren wollte, die Hinterräder hoch hoben und das Auto, als er Gas gab, fallen ließen, so daß es einen Sprung nach vorne machte. Mein Opa drohte dann nur lachend mit dem Zeigefinger in den Rückspiegel und brauste ab.

Abb. 10: Meine Oma und mein Opa mit ihren beiden ältesten Kindern, flankiert rechts von Opas Schwester Lucie und links von einem anderen Mädchen aus dem Dorf (um 1935)

Als einmal in einer Saalschlacht mit den Kommunisten in einer Gastwirtschaft (wohl in Plaue) sechzig Stühle zusammengeschlagen wurden, mußte die Mutter meines Opas den Schaden bezahlen.

Meinen Opa scheint das nicht weiter angefochten zu haben. Gerne klopfte er abends in der Gastwirtschaft eine Runde Skat (Abb. 6). Als ich etwa neun Jahre alt war, brachten mir meine Oma und mein Opa auch das Skatspielen bei. Und so auch zahlreiche "Sprüche", die Skatspieler so klopften und klopfen: "Und da verließen sie ihn und flohen in die Wüste" (beim Reizen) - und viele "Lebensweisheiten" ähnlicher Art. Jovialität war wohl das grundbestimmende Lebensgefühl meines Opas. Und vielleicht nicht nur meines Opas, sondern das der damaligen größeren Bauern auf den Dörfern überhaupt. Eine gewisse in sich ruhende Gelassenheit. Mein Opa war es auch, der mir das Schachspielen beibrachte. Es war ein großes Ereignis, als ich das erste mal gegen ihn gewann. (Oder als er mich gewinnen ließ. Darüber bin ich mir heute natürlich nicht mehr so sicher ...)


Abb. 11: Wohl in der Bahnitzer Feldmark - Otto und Johanna Bading mit Emma (Opas Schwester) und ihrem Mann Otto Lindenberg, einem Lehrer in Wusterwitz

Mein Opa war bei Kindern sehr beliebt. Gern saßen wir auf seinem Schoß und machten "Hoppe, hoppe Reiter". Gerne hörten wir, wenn er bei den Weihnachtsliedern mit seiner kräftigen Stimme einfiel. Meine Oma warf ihn immer aus der Wohnung, wenn er seine starken "Overstolz Ohne"-Zigaretten (also ohne Filter) rauchte. Von diesen konnte sie ihn nicht abbringen und diese werden wohl auch zu seinem vergleichsweise frühen Tod beigetragen haben. Vielleicht sogar zum Asthma seines Enkelsohnes (wenn man epigenetische Markierungen berücksichtigt, die über zwei Generationen weiter gegeben werden können.) War er von meiner Oma wieder einmal ausgeschimpft worden, setzte er sich in seine Sitzecke im Flur vor mein Zimmer, zündete sich eine Zigarette an und hörte zu, während ich auf der Trompete "Der Trompeter von Vionville" übte. Diese Melodie kannte er.

Abb. 12: Opas Mutter Emma Bading mit ihrer Enkeltochter (1936)

1934 wurde ihm sein erstes Kind, ein Sohn geboren, dem bis 1938 noch drei Töchter folgten.

Abb. 13: Meine Oma und mein Opa im Flugzeug, wohl auf dem damaligen Flugplatz Briest

Gern ließ er sich am Feierabend oder sonntags in Pantoffeln, mit Zigarre im Mund vor der Haustür mit seinen Kindern fotografieren (Abb. 7-9).

1933 - Ortsgruppenleiter, Amtsvorsteher und Bezirksbauernführer

Abb. 14: 10. Okt.1936 - Meine Oma wird Mitglied im BfG
Auf einem solchen Foto sind auch noch die Schilder zu sehen, die damals an seinem Haus hingen. Meinem Opa waren nämlich - als Träger des Goldenen Parteiabzeichens und "Ortsgruppenleiter" der NSDAP fünf Dörfer mit ihren jeweiligen "Blockwarten" unterstellt. Er war außerdem "Bezirksbauernführer" und hatte einen Aufsichtsposten in der Landeskrankenkasse inne. Schließlich wurde er Amtsvorsteher, der auch über die Polizei verfügen konnte.

Als 1945 "die Russen" kamen, hat meine Oma nicht nur seine gesamte Bibliothek verbrannt, sondern offenbar auch alle Fotografien, die ihn in Parteiuniform zeigten. Jedenfalls ist davon keine mehr vorhanden.

Sonntags bei Picknick-Fahrten ins Grüne - mit dem offenen Opel 6 (Wiki) des Wusterwitzer Schwagers - scheint er durchaus gerne mal "den Führer" gegeben zu haben (siehe Abb. 10). Er trug Anfang der 1930er Jahre ja auch schon den Schnauzbart genau so wie sein "großer Vorsitzender". Wie ernst er sich bei all dem genommen hat, ist aus dem Nachhinein schwer zu sagen. Da war wohl immer auch eine Spur jugendlicher Übermut und bäuerliche Verschmitztheit dabei.

Abb. 15: Meine Oma und mein Opa (1941)

Mein Opa war ein Bauer, der kein Blut sehen konnte. Wenn geschlachtet wurde, war er immer woanders. Jedenfalls nicht der Nazi, den Hollywood & Co. gerne als Klischee zur Darstellung bringen.

Abb. 16: Johanna und Otto Bading mit ihren vier Kindern hinter der Scheune im Garten (1943?)

Um seinen Ämtern nachkommen zu können, wurde neben der Haustür rechts das Wohnzimmer in ein Empfangsbüro mit Schreibtisch - und Klavier - umgewandelt. Hier konnten die Leute vorsprechen. Hier auch konnte mein Opa stundenlang am Klavier sitzen, ohne daß das Schelten meiner Oma über die dabei vergeudete Zeit etwas ausrichten konnte.

Abb. 17: Die Kinder inmitten von freilaufenden Schweinen und Hühnern

Da mein Opa seine Ämter nicht mehr mit der Wirtschaftsführung eines Bauernhofes vereinbaren konnte, wurde für letztere - wohl ab 1935 - ein Wirtschafter angestellt. Und dieser Wirtschafter nun - und dies ist ja die "Pointe" dieses ganzen Beitrages - war Anhänger des "Hauses Ludendorff". Daß er mit Nachnamen Müller hieß, hat sich in der Familienüberlieferung gehalten, mehr aber nicht. Erste Zweifel darüber, daß der Nationalsozialismus das Richtige wäre, waren meinen Opa - wie so vielen - schon anläßlich der Röhm-Morde im Juni 1934 gekommen. Mit dem Gedankengut des Hauses Ludendorff bot sich dazu eine Alternative an, von der er sich in sicherlich recht ernsten Gesprächen Schritt für Schritt recht gerne wird überzeugen haben lassen.

1935 - Kirchenaustritt

Mein Opa hat noch in den 1950er Jahren geglaubt (wie ich seinen Briefen entnehme, die in einem weiteren Beitrag ausgewertet wurden) (Stgr2015), daß der vormalige NS-Gauleiter von Magdeburg, Rudolf Jordan, jüdischer Herkunft sei. Mit einer solchen Vermutung war die Unterstellung verbunden, daß die NSDAP das Gegenteil von dem bezwecken würde, was sie nach außen hin vorgab, daß sie also - neudeutsch - "gehijackt" wäre. Daß dies tatsächlich der Fall war und daß es dazu auch gar keiner Gauleiter jüdischer Herkunft bedurfte, dafür sind inzwischen viele Anhaltspunkte zusammen getragen worden. Aber das gehört nicht hierher.

Abb. 18: Die Töchter mit drei Lämmern

Weitere Gründe waren: Das Kirchenchristentum hatte schon damals auf den norddeutschen Dörfern kaum noch Zugkraft. Mein Opa und meine Oma traten also 1935 aus der Kirche aus und wurden Mitglieder des "Bundes für Gotterkenntnis (Ludendorff)" (Abb. 7a, 11a). Sie ließen sich - den damaligen Gebräuchen folgend - standesamtlich als "gottgläubig" eintragen, nach dem März 1937 mit der staatlich anerkannten Religionszugehörigkeit "Gotterkenntnis (Ludendorff)".

Erich Ludendorff war etwa ab dem Jahr 1935 dem Dritten Reich auf halben Wege entgegengekommen, wenn er nun aussprach, daß Parteimitgliedschaft allein noch kein Hindernis für die Zugehörigkeit zu seiner Weltanschauungsgemeinschaft sei. Und in diesem Sinne wurde dies wohl auch von meinem Opa verstanden. Meine Oma war Mitglied der NS-Frauenschaft, Abteilung Volkswirtschaft-Hauswirtschaft. Und mit dieser fuhr sie 1937 zum Reichsparteitag nach Nürnberg. Sie war beeindruckt davon, wie die dort anwesenden Österreicher mit ihren skandierten Rufen "Wir wollen heim ins Reich" alle Sperren durchbrachen.

Wahrscheinlich machten mein Opa und meine Oma in dieser Zeit auch einen Rundflug, wahrscheinlich auf dem Flughafen Briest, wie eine Fotografie belegt (Abb. 11).

Abb. 19: Der Sohn auf dem Pferd, links mit dem serbischen Kriegsgefangenen Alexander (vor dem Kuhstall)

Noch wenige glückliche Jahre waren bis zum Kriegsausbruch geschenkt (Abb. 11-13).

Der Kriegsausbruch brachte für meinen Opa als Bürgermeister und Ortsgruppenleiter die Pflicht, den Angehörigen die Gefallenen-Meldungen zu überbringen. Auch mußte er den Bauern die Kriegsgefangenen zuteilen oder sie denselben wieder wegnehmen, wenn diese sie nicht ordentlich behandelten. Womöglich ließen ihn auch solche Pflichten verstärkt nachdenken über den bisherigen politischen Weg seiner selbst und Deutschlands insgesamt.

Abb. 20: Mein Opa als Soldat (1942)

Seine Kinder jedoch verlebten - Krieg hin oder her - eine glückliche Kindheit auf einem Bauernhof voller Tiere (Abb. 14-16). Auf unseren Hof kamen ein serbischer Kriegsgefangener, zwei russische Kriegsgefangene und eine russische Dienstverpflichtete. Der Serbe soll noch Wochen lang nach dem Einmarsch der Russen auf dem Hof geblieben sein und der Familie geholfen haben. Er ist den Kindern in menschlich hervorragender Weise in Erinnerung, wäre sehr gutmütig gewesen. Aber zu einem Drama kam es, als die Russin im Winter 1944 von dem Serben schwanger wurde. Sie lief von Genthin mit dem Kind zu Fuß bis nach Bahnitz, wobei das Kind starb. Darüber soll der kinderliebe Serbe todunglücklich gewesen sein.

1942 - Entlassung aus allen Ämtern

Doch zurück zu meinem Opa. Seine Zugehörigkeit zur Anhängerschaft von Erich und Mathilde Ludendorff hat er offenbar sehr ernst genommen zu. Womöglich entsprang daraus auch eine größere Gelöstheit, wie er sie auf den Fotos der Abbildungen 12 und 13 zeigt. Hier sieht man nicht mehr jene gewisse Steifheit, womöglich in Anlehnung an Adolf Hitler, wie er sie zuvor - sozusagen als Parteibonze - auf den Fotos mitunter demonstrierte hatte oder womöglich auch nur glaubte, demonstrieren zu müssen.

Was er nun scheint, so ernst genommen zu haben, führte allerdings zu einem Konflikt mit seinem Gauleiter Rudolf Jordan (Wiki) in Dessau. In den Kreisen der Ludendorff-Anhänger, die mein Opa damals kannte, wurde offenbar vermutet (wie schon erwähnt), daß Rudolf Jordan jüdischer Herkunft sei. Mein Opa beschwerte sich auf jeden Fall darüber oder war empört darüber, daß in der Presse des Gaues nicht ordentlich über Erich Ludendorff geschrieben wurde. Dahinter vermutete er böse Machenschaften. Leider ist es bislang nicht gelungen, die Zeitungsberichte über Erich Ludendorff zu finden, die meinen Opa damals so verärgerten. 1942 hat es aber sicherlich - angesichts der außenpolitischen Lage - in vielen Menschen in Deutschland innerlich gegrollt.**)

Abb. 21: Der Brückenkopf Colmar zwischen Thann im Süden und Schlettstadt im Norden, Dezember 1944 bis Januar 1945 (Wiki) - Mein Opa geriet schon gleich zu Beginn der Kämpfe um diesen Brückenkopf am 9. Dezember 1944 bei Thann in Gefangenschaft (s. Wiki)

Mein Opa erhielt eine Vorladung zum Gauleiter. Es soll zu einem sehr erregten Gespräch zwischen beiden gekommen sein. Bei diesem soll man sich offenbar sogar angeschrien haben. Als mein Opa schimpfend den Raum verlassen hat, soll der Gauleiter ihm noch auf dem Gang hinterher gelaufen sein und ihn gebeten haben, doch nicht so laut zu schimpfen. So erinnert sich eine der Töchter.

Allerdings blieb dem Gauleiter dann doch nichts anderes übrig, als meinen Opa von allen Ämtern zu entheben. Und damit war er nicht mehr "unabkömmlich" gestellt. Er wurde unverzüglich zur Wehrmacht eingezogen.

Was soll man zu diesem Vorgang sagen? Daß die NSDAP vor und nach 1933 von Wallstreet-Banken finanziert und gefördert worden ist, dafür gibt es viele Hinweise. Auf diese weist zum Beispiel auch Karlheinz Deschner in "Der Molloch" hin. Insofern muß die Ahnung meines Opas, daß mit der damaligen Politik der NSDAP falsches Spiel gespielt worden ist, nicht völlig falsch gewesen sein. Daß er das nun ausgerechnet an einer solchen Einzelperson festmachte wie diesem Gauleiter, mutet ansonsten vielleicht doch eher etwas wenig weitsichtig an. Wie auch immer.

1942 - Mit 36 Jahren Rekrut

Mein Opa war inzwischen 36 Jahre alt geworden. Er hatte noch nie Militärdienst geleistet. In dem Alter, in dem man sonst Wehrdienst leistete, gab es aufgrund des Versailler Diktates das 100.000-Mann-Heer mit Berufssoldaten und ohne allgemeine Wehrpflicht. Er mußte nun also als "grüner" Rekrut (bei den Panzer-Grenadieren) anfangen. Und er fühlte sich als solcher bei Ausbildern, die zehn Jahre jünger waren als er selbst, mitunter sehr unwohl.

Am 1. April 1942 wurde er als "Gewehr-Schütze" zum Gefreiten befördert. Er kam zum Einsatz bei den Besatzungstruppen in Frankreich. Laut Soldbuch erhielt er zwei mal Ernteurlaub und zwei Sonderurlaube. An der Kanalküste baute er den sogenannten "Rommelspargel", der die Landung feindlicher Flugzeuge und Fallschirmspringer auf offenen Flächen verhindern sollte.

Bei einem Durchmarsch durch eine französische Stadt begegnete er einmal ganz zufällig seinem Neffen Siegfried Lindenberg (1924-1943) aus Wusterwitz, der vor einer Kaserne Wache stand. Sie riefen sich eine Verabredung für den Abend zu und konnten sich noch einmal sprechen. Mein Opa sah seinen Neffen bei dieser Gelegenheit zum letzten mal. Siegfried war "blutjung", erst 19 Jahre alt. Er war hell begeistert vom Nationalsozialismus. Aus dieser Einstellung heraus war er wie selbstverständlich zu jedem Opfer bereit. Meinen Opa, der versuchte, ihm zu raten, seinen Kopf nicht gar zu weit heraus zu strecken, hat er wohl nicht verstanden.

1943 - Der Neffe in Rußland gefallen

Am 4. Dezember 1943 ist Siegfried Lindenberg als Unteroffizier des 9./Gren.Rgt. 431 im Ortslazarett Petrowitschi in Weißrußland seinen Verletzungen erlegen. An der dortigen Front standen die Divisionen in sehr schweren Abwehrkämpfen, bei denen die in die vorderen Gräben in Massen eingedrungenen Russen immer wieder in blutigsten Kämpfen von kleinem Kampfgruppen mit Handgranaten und im Nahkampf hinaus geworfen werden mußten (GAj2012).

Wenn wir in den 1980er Jahren von Westdeutschland aus unsere Tante Emma, Opas Schwester, in ihrem heimeligen, altertümlich eingerichteten Haus in Wusterwitz, errichtet Anfang der 1930er Jahre im Heimatstil, besuchten, durften wir sie nie an ihren Sohn Siegfried erinnern. Ihr kullerten dann die Tränen über's Gesicht und sie sagte gar nichts mehr. Sein Bild hing immer über ihrem Schreibtisch.

Tante Emma hatte in ihrer Großzügigkeit viel Ähnlichkeit mit unserem Opa. Die Tischplatte war bei ihr beim Essen immer zum Zerbersten überfüllt. "Nun eßt man' noch ein bisschen, eßt man' noch," waren ihre vielgebrauchten Worte, die auch dann noch ausgesprochen wurden, wenn man kugelrund bis zum Anschlag war, und an die man sich noch heute erinnert, wenn man an sie zurück denkt. In ihren Betten versank man in riesigen Kissen- und Deckenbergen. Ihr schönes Haus in Wusterwitz hatte sie sich erbauen können von dem Geld, das ihr mein Opa nach der Übernahme des Hofes als Anteil ausbezahlte.

Über ihre Jugend nach dem Ersten Weltkrieg schrieb sie mir einmal (1, S. 72):

Meine Kindheit war Arbeit. Bis 14 Jahren ging ich in die Schule. Als ich raus kam (1918), wurde hart gearbeitet. Die Arbeitskräfte und wir mußten arbeiten: die Kühe melken, schleudern, buttern, alles mit der Hand, wir hatten keine Maschinen, die Schweine füttern, Kartoffeln dämpfen für das Vieh, für Gänse, Hühner, Enten. Die wurden dann im Herbst geschlachtet und verkauft. Holz und Kohle reinholen, heizen. Im Winter wurde das Korn gedroschen, immer ein paar Stunden vormittags und nachmittags. Denn Geld wurde auch gebraucht und Futter brauchten wir für das Vieh auch. (...) Wir hatten noch keinen Fernseher noch Radio und haben gesungen aus voller Kehle.
Abb. 22: Dez. 1944

Nach der Invasion im Juni 1944 wurde mein Opa während des Rückzuges beim Übergang über die Schelde im Rücken leicht verletzt. Die Pferde, die er hielt, waren durch Granatsplitter an den Nüstern getroffen worden. Deshalb kam er blutüberströmt ins Lazarett und wurde mit Entsetzen in Empfang genommen. Aus dem nachfolgenden Genesungsurlaub wurde mein Opa vorzeitig abberufen, um noch einmal eingesetzt zu werden. Und zwar im Elsaß.

2023 habe ich über Recherchen versucht, die militärischen Vorgänge, innerhalb deren sich mein Opa damals bewegt haben muß zu rekonstruieren. Diese Ausführungen werden aber in einen Anhang verbannt. 

Offenbar haben jene Truppenteile, denen er angehörte, das Absetzen nach Osten und Süden verpaßt. Er geriet laut überlieferter Dokumente am 9. Dezember 1944 bei Thann in die Gefangenschaft der 1. französischen Armee (Abb. 22). Die Kämpfe an dem Frontabschnitt um Thann beruhigten sich nach dem 10. Dezember und die Front verlief noch bis zum 4. Februar 1945 auf der Ostseite des Städtchens Thann, dessen Bewohner deshalb noch wochenlang weiter in  Kellern wohnen mußten (siehe auch Kriegstagebuch des OKH pdf).

Abb. 23: Februar 1953 (a)
Der erhalten gebliebene "Fiche de Prisonnier de Guerre" wurde von Seiten der 1. französischen Armee im wieder eroberten Colmar ausgestellt, also womöglich frühestens im Februar 1945 (Abb. 22). Unter "Einheit" ist darin angegeben "Btl. Hauptmann Lindau". Vielleicht war das der Vorgesetzte, mit dem zusammen mein Opa in Gefangenschaft geraten war. 

Womöglich habe ich diese Erzählung noch aus seinem eigenen Mund gehört, wie er mit seinem Leutnant auf einem Hügel gesessen sei und unten rundherum schon die Franzosen gewesen seien und wie nun stillschweigend - und so auch von meinem Opa nicht offen ausgesprochen - die Frage zwischen den Soldaten im Raum gestanden sei, ob sie noch den "Helden" geben oder sich in Kriegsgefangenschaft begeben sollten. - So war es in diesem Beitrag dargestellt bis zum 20.5.23. Nach der seither ergänzten Darstellung durch einen Zeitzeugen (siehe Anhang) blieb ihnen dazu aber offenbar nur wenig Wahl. Außerdem ist in der im Anhang wieder gegebenen Beschreibung dieser Kämpfe zu lesen, daß diese keineswegs so harmlos waren, wie als Eindruck von Seiten meines Opas durch seine Erzählungen im Familienkreis in Erinnerung geblieben ist. Vielleicht war er aber auch erst kurz vor der Gefangennahme aus dem Urlaub angekommen und deshalb dort gar nicht so lange im Einsatz gewesen (?).

Abb. 24: Februar 1953 (b)

Zwischen Ende 1944 und 1947 bekam meine Oma keine Nachricht über den Verbleib meines Opas. Mein Opa galt als vermißt. Das waren mehr als zwei ganze Jahre, in denen meine Oma nichts von ihm hörte. Nämlich die Jahre 1945 und 1946. In der französischen Kriegsgefangenschaft (Wiki) mußte mein Opa wochenlang unter freiem Himmel hinter Stacheldraht leben. Später mußte er bei elsässischen Bauern sehr schwer arbeiten.

Erst bei einer "Madame" soundso im Elsaß ging es ihm zum Teil sehr viel besser. Bei ihr scheint es ihm sogar gefallen zu haben. Sein Leben lang benutzte er gerne französische Worte wie "Chaiselongue", "Chaussee" oder ähnliches. Als er schreiben durfte, forderte er meine Oma auf, sie solle doch mit den Kindern zu ihm ins Elsaß kommen. Er wollte gar nicht mehr zurück in sein Heimatdorf, das jetzt von den Russen besetzt und kommunistisch geworden war.

Da sich meine Oma weigerte, kehrte er schließlich nach Hause zurück. Am 12. November 1947 ist er aus Gefangenschaft entlassen worden.

1953 - Nach Westdeutschland wegen der Zwangskollektivierung in der DDR

Das Kriegsende am 4. Mai 1945 in Bahnitz ist schon in einem anderen Beitrag geschildert worden (Studgen2010). In diesen flossen auch Familienerinnerungen ein.

Abb. 25: Deutsche Kriegsgefangene als Arbeitskompanie im Elsaß, Juni 1945 (DW2014)

Als mein Opa aus Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückkehrte, war das Leben dort für die großen Bauern "kein Leben und kein Sterben". Die Russen hatten 1945 den gesamten Viehbestand beschlagnahmt. Meine Oma hatte vor allem mit den beiden älteren Kindern die Landwirtschaft so gut es ging weiter geführt.

Für meinen Opa war es sehr schwer, den Viehbestand wieder aufzubauen, um das "Ablieferungssoll", das vom Staat gefordert wurde, erfüllen zu können (Abb. 23, 24). Die großen Bauern wurden von staatlicher Seite schikaniert, wo es nur ging, damit diese "freiwillig" in die "Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft" (Wiki) eintreten würden. 

Fast keiner der großen Bauern in Bahnitz hat dies getan. Sie sind fast alle im Jahr 1953 mit ihren Familien hinüber "in den Westen gegangen", also geflüchtet.

Abb. 26: Mein Opa, wohl Ende der 1950er Jahre in einem dreirädrigen Messerschmitt Kabinenroller, daneben eine seiner Töchter - Erste Zeichen des "Wirtschaftswunders"

Mein Opa hatte 1947 keine Schwierigkeiten mit der "Entnazifizierungskommission". Zu ihr wurde er schon am 18. Dezember 1947 vorgeladen. Kommunistische Arbeiter sprachen sich als Zeugen für ihn aus. Nun, 1953, kam der kommunistische Bürgermeister eines abends spät an das Wohnzimmerfenster und flüsterte meinem Opa zu: Wenn du morgen früh nicht weg bist, muß ich dich festnehmen. Sein Sohn schrieb 1983 dazu in einer Stellungnahme:

Die Absicht der Machthaber war ab 1952 darauf gerichtet, die privaten landwirtschaftlichen Familienbetriebe zu zerschlagen und zu kollektivieren. Dazu wurden die größeren Betriebe mit einem Soll belegt, das sie nur unter besonders glücklichen Umständen erfüllen konnten. Mein Vater hatte nur die Wahl zwischen Gefängnis und Flucht.

Und so ist Opa noch in der Nacht nach Westberlin gefahren (ins Aufnahmelager Marienfelde). Wenig später kam die ganze Familie unauffällig nach. Die eine Hälfte der Kinder brachte Tante Emma nach Westberlin, die andere Hälfte fuhr mit meiner Oma, damit es nicht zu auffällig wurde. Dennoch wurde meine Oma im Zug von der Volkspolizei streng verhört, konnte sich aber durchmogeln. Im Aufnahmelager Marienfelde trafen sich dann die Familien fast aller großen Bauern des Dorfes wieder. Sie sind nur wenige Tage später ebenfalls geflüchtet.

Abb. 27: Mein Opa in Wehe/Westfalen (1963)

Übrigens war sein Sohn während seiner Kriegsgefangenschaft vom Pfarrer in Bahnitz noch konfirmiert worden. Dieser Pfarrer erklärte seinem Sohn: "Wegen solcher Leute wie deinem Vater haben wir den Krieg verloren." Mag sein, daß die Menschen früher auf dem Lande schlichter dachten als das heute so üblich ist. Pfarrer wie diese verstärkten eher eine solche Schlichtheit als daß sie weitere Horizonte geöffnet hätten. Aber hinter dem Wort mag auch noch vieles von dem "Schrecken" des Kirchenkampfes auf dem Land stecken, den dieser Pfarrer erlebt haben mag. Solche Meinungen waren nach 1945 in Deutschland wohl recht häufig anzutreffen und viele Menschen sind ja damals wieder in die Kirchen eingetreten.

Oma und Opa übersiedelten nach Espelkamp in Westfalen, wo sie sich eine bescheidene Existenz aufbauen konnten. 

Die Enkelkinder - Eine neue Generation wächst heran

Die Kinder waren nun alle aus dem Haus. Mein Opa arbeitete zunächst auf einem Gut bei Warburg, dann in einer Ziegelei als Ziegelei-Arbeiter, was er als eine fürchterliche Schufterei in Erinnerung behielt. Später suchte er sich eine Tätigkeit als Nachtwächter. Als solcher hatte er seine Ruhe vor den Menschen. Diese konnten ihm nach Kriegsende und Vertreibung mehr noch als zuvor den Buckel herunter rutschen. Als wirklich einmal Einbrecher kamen, versteckte er sich.

Abb. 28: Mein Opa und ich auf meinem siebten Geburtstag (März 1973)

Die Abbildungen 28 bis 32 zeigen meinen Opa, wie wir ihn alle in Erinnerung haben, die ihn noch kennengelernt haben.

In unserer Familie in Westdeutschland sagten wir zwar nicht wie die Juden "Und morgen in Jerusalem", also: "Und morgen in Bahnitz". Aber es war schon einigermaßen ausgemachte Sache in meiner Kindheit, daß ich nach der Wiedervereinigung, von der man als sicher ausging, den Hof in Bahnitz wieder übernehmen würde und die Familientradition fortsetzen würde.

Abb. 29: Mein Opa mit zwei seiner Enkelkinder (etwa 1973)

Es kam zwar nicht alles anders - aber das meiste.

Mein Opa half an seinem Lebensende noch viel im Betrieb seines Sohnes mit, der selbständig war. Im großen Garten gab es immer irgendwo etwas zu tun. Wenn irgendwo ein großer Stein zu bewegen war, wenn ein Ast abzusägen war, holte er mich mit dazu und dann machten wir es gemeinsam. So lernte ich früh und ganz selbstverständlich, zu Hause zu helfen. Opa war ein selbstverständlicher Bestandteil unserer Kindheit. Er war bei allen Kindern sehr beliebt.

Abb. 30: Mein Opa (etwa 1976)




Als mein Opa 1979 starb, kamen seine beiden Töchter aus den USA, kam seine Schwester und seine Schwägerin aus der DDR, kam sein Neffe aus Südafrika. Sie alle versammelten sich noch einmal um sein Grab. Und im Wohnzimmer wurden Familienerinnerungen ausgetauscht. 

Es wurde mehr gelacht als geweint. Meinen Opa hatten alle gern gemocht.

Abb. 31: Mein Opa 1978

Was von meinem Opa bleibt? Es wird schon - "nimm nur alles in allem" - ein lebenswertes Leben gewesen sein, das er geführt hat. 

Und das geistige Erbe, das er hinterlassen hat, seine Anhängerschaft zur Philosophie Mathilde Ludendorffs? Diesbezüglich scheint die Weltgeschichte noch kein abschließendes Wort sprechen zu wollen. 

Aufgrund ihrer Nähe zur Naturwissenschaft und aufgrund der Tatsache, daß sie - mit dieser Nähe - zugleich eine überzeugende Sinndeutung des Werdens des Kosmos, der Lebenswelt und der Menschenwelt gibt - hat sie der gegenwärtigen Generation und zukünftigen noch immer genauso viel zu sagen wie in der Vergangenheit.

Abb. 32: Mit meinem Opa, März 1979

/ Ergänzt anhand Lit.ang. 7 bis 9:
20.5.2023 /

/ Ein zweiter Teil zu diesem Blogartikel folgt --> hier. /

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*) In dem Gebäude, in dem sich einstmals die Landwirtschaftliche Lehranstalt befand, dem Luisenhof in Oranienburg, befindet sich heute die Landwirtschaftsschule (Ob.havel, WikiCom). Neben ihm befindet sich heute die Polizeiinspektion Oberhavel. Im Gebäude befindet sich noch der originale Lehrstuhl Albrecht von Thaer's, auf den die Gründung der Lehranstalt zurück geführt wird. Im Innern des Gebäudes finden sich historische Fotografien aus der Geschichte der Lehranstalt.
**) In einem allgemeinen Brieftelegramm vom 17. Februar 1941, das den noch erscheinenden Schriftenreihen des Ludendorff-Verlages beigelegt wurde (als Ersatz für die Halbmonatszeitschrift, der gleich bei Kriegsausbruch das Papier entzogen worden war), schrieb Mathilde Ludendorff zu jener Zeit (4): "Es freut mich, daß Sie Entstellungen über die Leistungen meines verstorbenen Mannes im Weltkrieg nur mit Entrüstung lesen können. Wir wehren sie auch ab, soweit es möglich ist, aber ich glaube, die Bemühungen sind auch vergeblich. Die Wahrheit wird sich durchsetzen." Darauf kommt sie noch einmal zurück in einem Verlagsrundbrief vom 9. April 1941 (4), in dem sie "so viele Klagen darüber" anspricht, "daß des Feldherrn Taten verschwiegen, ja sogar verzerrt würden, daß da oder dort sein Name nicht genannt, sein Gedenken nicht gefeiert sei." Sie schrieb dazu: "Gewiß vertrete hier wie überall jeder die Wahrheit, dulde jeder in seiner Umwelt keine Entstellung." Wichtiger aber noch sei, durch eigenes Handeln auch sonst sich des großen Vorbildes Erich Ludendorffs würdig zu erweisen. Sie schreibt (4): "Klare, unantastbare, moralische Wertungen, wie sie im Werke 'Triumph des Unsterblichkeitwillens' gegeben sind, gilt es in der eigenen Seele allein zur Herrschaft zu bringen. (...) Je herrlicher dies dem einzelnen gelingt, um so mehr werden seine Klagen über Verkennen und Verschweigen verstummen." - Der Anlaß, der den Ärger meines Opas hervorrief, war also ein solcher, wie damals innerhalb der Ludendorff-Bewegung viele ähnlich wahrgenommen worden sind. Womöglich von den neu hinzugekommenen Ludendorff-Anhängern - wie meinem Opa - noch stärker als von den schon älteren. Diese waren das ja womöglich schon seit längerem - "gewohnt" und erwarteten nichts anderes.

Anhang: 9. Dezember 1944 - Gefangennahme in Thann im Elsaß

Im Elsaß stand Ende 1944 die deutsche 19. Armee (Wiki) in Abwehrkämpfen gegen die 1. französische Armee (Wiki), die sich das Rhone-Tal entlang nach Norden vorgekämpft hatte.

Abb. I: Die HKL des LXIII. Armeekorps am 24. November 1944 im Elsaß: Sie umfaßte Thann in weitem Bogen und war bei Bischwiller von Thann nur noch grob fünf Kilometer entfernt - Sie reichte von Rimbach-Guebviller im Norden über Masevaux und Reppe bis Montreux Vieux im Süden (GMaps)

Die 19. Armee hatte im September 1943 als Besatzungsarmee die gesamte französische Mittelmeerküste besetzt gehalten und war seit August 1944 von der 1. französischen Armee ins Rhone-Tal und entlang der Schweizer Grenze in schweren Kämpfen zurück gedrängt worden. Am 20. November 1944 hatte sie die Sperrfestung Belfort räumen müssen, vierzig Kilometer südwestlich von Thann im Elsaß, wo mein Opa vier Wochen später in Gefangenschaft geraten sollte. Die Geschehnisse werden auf der Internetseite des Museums Turckheim im Elsaß folgendermaßen dargestellt (Mus.Turck):

Das doppelte Vordringen zum Rhein
14. November 1944
- Beginn der alliierten Offensive in Richtung Elsaß.
19. November 1944
- der Rhein wird in Rosenau erreicht (CC3 der 1. Panzerdiv.)
21. November 1944
- Befreiung von Mühlhausen durch die 1. Panzerdivision (dann von Belfort durch die 5. PD - 2. DIM)
Parallel zu diesen Operationen wird Straßburg am 23. November 1944 befreit durch die 2. Panzerdivision (General Leclerc) angeknüpft an die 7. amerikanische Armee von General Patch.
Die 19. Armee ist reduziert auf 20.000 Leute, das entspricht einer französischen Division.
Am 30. November 1944 ändert General de Lattre plötzlich die Angriffslinie seiner Armee, d.h. "von Süden nach Norden über das Flachland" wird zu "von Osten nach Westen über die Berge".
Warum?
Das ganze Elsaß hätte zum 3. Dezember 44 befreit sein können.
Ein Frontbogen formt sich um Colmar: eine 160 km lange Front zieht sich zu einem Kreis zusammen, südlich von Straßburg bis Mühlhausen über die Gipfel der Vogesen.
Die Operationen
Verstärkung der 19. Deutschen Armee:
Ankunft von frischen Truppen aus Deutschland (9 Infanteriedivisionen + 2 Panzerbrigaden).
Am 6. Dezember übernimmt Reichführer Himmler persönlich das Kommando aller operationellen Truppen im Frontbogen von Colmar. (...)
Colmar hört die Kanonen und hofft, wird aber noch nicht befreit.
Ende Dezember 1944: die Verteidigung von Straßburg ist in Frage gestellt durch die Gegenoffensive von von Rundstedt in den Ardennen. Eisenhower will seine Position aufgeben und seine Linien in die Vogesen (zurück) verlegen.

So der Verlauf im Großen. Wobei die Entscheidung des Generals de Lattre offenbar Fragen aufwirft. An der linken Flanke der 19. deutschen Armee verteidigt das LXIII. deutsche Armeekorps (LexdW):

Das Korps bildete die südliche Flanke der deutschen Westgrenze und lehnte sich an die Schweizer Grenze an. Am 18. November stießen alliierte Verbände durch die burgundische Pforte und öffneten so den Weg in die elsässische Tiefebene. Am 20. November wurde Belfort durch französische Einheiten besetzt und das Korps baute östlich der Stadt eine neue HKL auf. Am Abend des 24. November befand sich die Front des Korps in der Linie Rimbach - Masevaux - Reppe - Montreux Vieux.

Den Verlauf dieser Frontlinie muß man sich klar machen, wenn man den weiteren Verlauf der Kämpfe verstehen will (s. GMaps) (Abb. I). Dieser weitere Verlauf war offenbar sehr deutlich von der oben genannten Entscheidung des Generals de Lattre beeinflußt. Das heißt, die Deutschen verteidigten auf den waldreichen Bergen auf der Westseite von Thann die Stadt Richtung Westen und auch Richtung Nordwesten, Richtung Bischweiler hin. Von dort her griffen die Franzosen der 1. Armee an, obwohl sie womöglich viel leichter durch die Ebene des Rheintales bei Straßburg gen Norden hätten durchstoßen können (LexdW):

Unter ständigen alliierten Angriffen und schweren Verlusten ging das Korps bis zum 10. Dezember 1944 auf die Linie Thann - Südrand St. André - südlich von Straßburg - Südteil Nonnebruchwald - Westrand Reiningen zurück. Am 14. November hatte das Korps noch eine Kampfstärke von 9.280 Mann. An diesem Tag (10. Dezember) ging nach schweren Kämpfen der Ort Thann verloren.

Vier Divisionen standen im Rahmen dieses Korps zu jenem Zeitpunkt im Einsatz. Keine der genannten stammte, soweit übersehbar, als solche aus Brandenburg. Aber man könnte sich diesbezüglich noch die einzelnen zugehörigen Regimenter genauer anschauen, ob es da eines gab, das aus Brandenburg stammte - um zu verstehen, warum mein Opa gerade in diese Ecke verschlagen wurde. Immerhin waren ja 9 Infanteriedivisionen neu der Front im Elsaß zugeführt worden. Alle Divisionen, die damals an der Westfront zum Einsatz kamen, insbesondere dann auch in der Ardennen-Offensive, waren ja dann Divsionen, die bei der Verteidigung der Ostgrenzen des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion fehlten.

Abb. II: In den waldreichen Bergen westlich von Thann im Elsaß, auf dem Stauffen, dem Zuber und dem Steinby verlief die deutsche Hauptkampflinie, Front Richtung Westen - Auf einem dieser Berge wird mein Opa am 9. Dezember 1944 in Gefangenschaft geraten sein, nachdem Thann selbst schon von den Franzosen eingenommen worden war 

Die Amerikaner hatten also im Norden den Rhein erreicht und die Franzosen im Süden. Und dazwischen hielten die deutschen Soldaten in den Vogesen den Brückenkopf Colmar. Auch in Thann wartet ein Elsässer, J. Baumann, auf die Befreiung durch die Franzosen. Er machte sich Tagebuch-Notizen, in denen er sich über die Zurückeroberung Straßburgs und Mühlhausens freute und konsequenterweise schon in den nächsten Tagen mit der Befreiung von Thann rechnete. Diese sollte allerdings - zur Überraschung aller - noch viele Wochen auf sich warten lassen (9). Wir lesen (7):

Die Amerikaner und die 2. Pz. Div. befreien Straßburg am 25. November. Die 1. (französische) Armee erreicht am 18. November den Rhein und befreit am 20. Mühlhausen. Die Befreiung von Colmar, das sich in der Mitte des Kessels befindet, der die noch von den Deutschen besetzte Region bildet, scheint daher ganz nahe. Es sollten jedoch noch zweieinhalb Monate an Kämpfen einer seltenen Heftigkeit notwendig sein, bis die 1. Armee den deutschen Widerstand bezwingen konnte.

J. Baumann berichtet, daß man ab 22. November in Thann den Gefechtslärm vom 40 Kilometer entfernten Belfort herüber hörte. Er berichtet, wie in den Folgetagen der NS-Kreisleiter des Ortes und die Leiter anderer NS-Formationen ihre Sachen packten und abreisten, begleitet von der klammheimlichen Freude der beobachtenden Elsässer vor Ort - wie J. Baumann, die dem nationalsozialistischen Deutschland ablehnend gegenüber standen.

Die Kämpfe um Thann im Elsaß

Am 1. Dezember 1944 schreibt dieser Baumann in sein Tagebuch (9):

Heute Morgen um 10.30 Uhr gab der Kampfkommandant Oberstleutnant Wellenkamp den letzten verbliebenen deutschen Zivilisten Befehle, Thann unverzüglich zu verlassen. 

Am 2. Dezember (9):

Der deutsche Widerstand versteifte sich. Teile der Batterien, die nach Steinbach abgeordnet worden waren, kehrten über Nacht auf ihre alten Positionen in Thann zurück und schießen so viel sie können.

Steinbach liegt vier Kilometer östlich der Stadt (GMaps). Die deutschen Batterien schießen von Thann aus in die waldreichen Bergen westlich und nordwestlich von Thann. Dort wird mein Opa eingesetzt gewesen sein. Am 5. Dezember schreibt J. Baumann (9):

Von der Rosenburg und der Engelsburg aus feuern die Deutschen in Richtung Weckenthalkopf und in Richtung Alenborn. Truppen, zu Fuß oder motorisiert, fließen vom Saint-Amarin-Tal zurück (nach Süden) in die Ebene, während kleine Gruppen (nach Westen) ins Steinby-Tal stürmen. Sie marschieren im Gänsemarsch, müde, gleichgültig, schmutzig. Das ist freilich nicht mehr die "stolze Wehrmacht"! Und doch wehren sich diese Lumpen wie verrückt! 

Saint Amarin liegt zehn Kilometer nördlich von Thann, hinter Bitschwiller. Allenbourn ist eine kleine Siedlung am gleichnamigen Bachlauf vier Kilometer nordwestlich von Thann, hinter dem Weckenthalkopf. Vielleicht befand sich mein Opa unter den im Gänsemarsch ins Steinby-Tal marschierenden Soldaten. Dort sollten - nach Aussage von J. Baumann - am 9. Dezember viele deutsche Gefangene gemacht werden. Doch zunächst schreibt er über den 7. Dezember (9, S. 2):

Es kam der 7. Dezember. Die Offensive begann. Bitschiviller wurde (von den Franzosen) genommen. Am nächsten Tag findet der Angriff auf Thann statt.

Zum selben Tag schreibt er (9, S. 10):

Um 7 Uhr morgens, nach einer relativ ruhigen Nacht erschüttert ein höllischer Lärm unsere Herzen. Es ist die Generaloffensive auf Thann. Geschosse fallen hart auf die Höhe von Leimbach. (...) Das Bombardement dauert - mit nur wenigen Unterbrechungen - bis zu 10 Stunden. Nachmittags beginnt der Tanz erneut im Bereich Steinby. Die Bevölkerung hat sich in die Keller geflüchtet und wartet ungeduldig und ängstlich auf die kommenden Ereignisse. Nach 14 Stunden wird die Brücke Halle aux Blé mit Hilfe einer gewaltigen Sprengladung gesprengt.

Am 8. Dezember kommen laut Tagebuch durch den Beschuß zahlreiche Bürger von Thann ums Leben oder werden verletzt (9). 

Die Deutschen ziehen sich am 8. Dezember nach Süden und Südosten auf Vieux-Thann zurück. Sie sprengen um 11 Uhr die Bungert-Brücke. Die Franzosen ziehen in Thann ein. Der Tagebuch-Verfasser schreibt (9, S. 2):

Unsere Soldaten - Legionäre, marokkanische Infanterie, Jäger aus Afrika - erobern in schwerem Kampf die von den "Boches" gehaltenen Häuser, Haus für Haus, Straße für Straße, Viertel für Viertel. Der Zufall im Fortschritt der Kämpfe schafft seltsame Situationen. Überquellende Freude in einer Gasse, die bereits befreit ist, Angst und Unsicherheit in einer anderen, in der der Kampf immer noch tobt. Völlige Unkenntnis der Sachlage 50 Schritte weiter. Am 10. wird Thann schließlich vollständig gesäubert. Aber es ist noch nicht das Ende des Geschehens. Denn der Feind steht immer noch ganz nah. Manche bleiben nur wenige hundert Meter von der Stadt entfernt stehen, klammern sich an die "Drackhüffa", verschanzen sich in den Häusern von Vieux-Thann, werden in den Wäldern des Herrenstubenkopfes überfallen.

Der Herrenstubenkopf liegt vier Kilometer nord-nordöstlich der Stadt. Der Zeitzeuge berichtet von einem Tunnel eineinhalb Kilometer nördlich der Stadtmitte, in dem sich deutsche Truppenteile verschanzt haben. Dieser ist schwer umkämpft. Am Ende gehen dort etwa 50 deutsche Soldaten in Gefangenschaft. Drei deutsche Panzer passieren im Rückzug nach Süden das Rathaus und bekämpfen die von Norden her nachdrängenden französischen Panzer. Um 16.40 Uhr dringen die französischen Panzer bis zum Rathaus vor.

Abb. III: Von solchen Bergen wie dem Aussichtsberg Stauffen, Blick Richtung Norden hinunter auf die Stadt Thann im Elsaß, wird mein Opa am 9. Dezember 1944 in französische Kriegsgefangenschaft gegangen sein

Die Deutschen halten aber immer noch die Waldregion Steinby vier Kilometer westlich der Stadt, sowie die Berge Zuber und Stauffen in den waldreichen Bergen dazwischen (GMaps). Durch das Eindringen der Franzosen nach Thann hinein sind diesen Truppenteilen die Rückzugswege abgeschnitten. Der Zeitzeuge aus Thann schildert für den 9. Dezember einzelne Abschnitte des Kampfes um Thann. Er schildert den Kampf von Mörsern und Panzern in einzelnen Stadtteilen. Von Norden her kämpfen sich die Franzosen in den waldreichen Bergen vor (9):

Bedroht davon, umgangen zu werden, nutzen die Deutschen die Nacht aus, um sich zurückzuziehen. Auch in Richtung Steinby geht der (französische) Vormarsch weiter. Am Morgen wurde dieser Bereich zwischen 8 und 12 Uhr mit extremer Gewalt bombardiert, die offenbar darauf abzielte, den Rückzug der dortigen deutschen Truppen zu verhindern, die den Stauffen verteidigten, und die ihn erst in der Nacht zuvor durch Truppenteile aus Guebwiller verstärkt hatten. Über die Rue Kléber schieben sich die Panzer bis zum Croix du Stauffen hinauf, zeitweise sogar bis zum Staudamm des Parks, nachdem er einen deutschen Maschinengewehrschützen hart getroffen und liquidiert hatte, der wie ein Verrückter vor dem Restaurant Subiger geschossen hatte. Der Unvorsichtige ist am Fuße des Gekreuzigten zusammengebrochen, seine Arme wurden amputiert.

Guebwiller liegt 18 Kilometer nordöstlich von Thann und der Stauffen ist ein Aussichtsberg im Südosten von Thann. Die Rue Kléber führt vom Zentrum des Ortes aus nach Süden bis Leimbach. Mit Croix du Stauffen ist aber hier nicht das Lothringer Kreuz auf dem Berg gemeint, sondern ein Jesuskreuz an einem Haus in der Rue Kléber, das sich wohl noch nördlich des erwähnten "Park Albert 1er" befand.

 Am 10. Dezember schreibt J. Baumann in seinen Notizen (9):

In der Nacht evakuierten die Deutschen die Höhen von Stauffen und der Zuber-Aussicht. Die französischen Panzer dringen weiter in das Steinby vor. Sie holen dort 62 Gefangene aus dem Huck-Haus. Im Jenn-Haus ergeben sich weitere 25. 

Wenn wir es recht verstehen, handelte es sich dort oben in den Bergen um Wanderhütten. Es ist naheliegend, daß sich mein Opa unter den hier Gefangengenommenen befunden hat. 

In einer allgemeineren Darstellung heißt es über diesen Angriff der 1. französische Armee (7):

Die Offensive beginnt am 5. Dezember, jedoch muß sich die 1. Armee angesichts des deutschen Widerstandes mit einem Vorrücken an den Flanken des Kessels und der Befreiung von Thann im Süden (10. Dezember) und Schlettstatt im Norden zufrieden geben.

Von Thann aus wurden nicht in Gefangenschaft geratene deutsche Truppenteile auch wieder 50 Kilometer weiter nach Norden an den Mont de Sigolsheim verlegt, wo die Kämpfe dann für diese Truppenteile weiter gingen (8):

Werner Schauer, Jahrgang 1925, damals Infanterist im Grenadierregiment 1213, schrieb sehr ausführliche Erinnerungen an seine Erlebnisse im "Brückenkopf Kolmar". Sein Bericht bestätigt, wie zusammengewürfelt und zum Teil unerfahren die Einheiten waren, die in diesen Tagen eingesetzt wurden. Er hatte bereits ab 7.12. an Kämpfen um den Mont de Sigolsheim teilgenommen. Am 12.12. sollte sein Regiment, wie es im Divisionsbefehl hieß, "im Zusammenwirken mit dem von Nordwesten angreifenden Regiment Ayrer den Feind auf dem Mont de Sigolsheim (vernichten)". (...) Er berichtet aber vom Angriff des Regiments Ayrer am 12. Dezember und dem Tod des Kommandeurs. Am Vortag hatte Schauer in Kientzheim einen Stabsfeldwebel kennen gelernt, der mit 22 älteren Luft-Nachrichten-Soldaten - dem Rest seiner in früheren Kämpfen bei Thann dezimierten Kompanie - jetzt am Mont de Sigolsheim eingesetzt werden sollte. Aus seinem Bericht zum 12.12.: "Abends höre ich, daß beim Angriff morgens um 10 Uhr der Zug des Stabsfeldwebels am linken Berghang von Granatwerfer-Salven wie von einer Lawine überrollt wurde. Dem Stabsfeldwebel zerriß es die linke Hand und den Arm. Die paar Überlebenden brachten ihn nach unten in den großen Weinkeller. Er konnte glücklich sehr schnell via Ammerschweier, Colmar, Breisach nach Freiburg gebracht werden. Unser Bataillonsarzt glaubt, daß er überleben wird. Unsere Gruppe ... war in etwa Bergesmitte eingesetzt und kam heil zurück." 

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  1. Bading, Ingo: Meine Ahnen und ihre Zeit. Facharbeit 10. Klasse, Realschule Homberg/Efze, Ostern 1982 (unveröffentlichtes Manuskript)
  2. Schlipf's Handbuch der Landwirtschaft. Vierundzwanzigste Auflage, Verlagsbuchhandlung Paul Parey, Berlin 1922
  3. Wölfer, Dr. phil Th.: Grundsätze und Ziele neuzeitlicher Landwirtschaft. Achte, neubearbeitete Auflage. Verlagsbuchhandlung Paul Parey, Berlin 1921
  4. Bading, Ingo: Kriegsbriefe Mathilde Ludendorffs - Seit Jahrzehnten ungetane Arbeiten des Ludendorff-Archives. Studiengruppe Naturalismus 29.1.2013, http://studiengruppe.blogspot.de/2013/01/kriegsbriefe-mathilde-ludendorffs.html 
  5. Engelkes, Gustav G: Weltkrieg brennt in Jungenherzen! Verlag von Julius Beltz, Langensalza, Berlin, Leipzig 1933 (5. Aufl. 1935, 6. Aufl. 1936) (95 S.) (freies pdf)
  6. Bading, Ingo: Bauern, Büdner, Häusler und Kuhhirten Meine Oma und ihre Vorfahren aus dem Dorf Zollchow im Havelland. Preußenblog, 30. September 2017, http://preussenlebt.blogspot.de/2017/09/bauern-budner-hausler-und-kuhhirten.html  
  7. 1945 - Die Befreiung von Colmar, https://www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/1945-die-befreiung-von-colmar [20.5.2023]
  8. Wolfgang Krebs. André Hugel, Eberhard Neher: Der Krieg im Elsass Ende 1944 und die sinnlosen Opfer (pdf) In: diess.: Wir waren Feinde: Elsässer, Deutsche, Amerikaner erinnern an die Kämpfe um die "Poche de Colmar" im Dezember 1944. Centaurus Verlag & Media 2015 (168 S.)
  9. J. Baumann: Chronique de la liberation de Thann. Extraits d'un Journal de guerre. 20.11.1944-5.2.1945. Erarbeitet bis zum 1. Dezember 1945 (pdf)

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