Dienstag, 25. Dezember 2012

"Das Genie ringt sich durch" - Ein weiser Satz oder Irrtum?

Abb. 1: Ludwig van Beethoven
Begabung für das Schaffen auf kulturellem Gebiet - ringt es sich geradezu zwangsläufig durch? Oder türmen sich Gefahren um die Verwirklichung einer Begabung?

Vor mehr als zehn Jahren hatte der Titel eines Aufsatzes in der Zeitschrift der Ludendorff-Bewegung "Mensch und Maß" gelautet "Wurzelt unsere Zeit in der vormittelalterlichen Welt?" (1). Der Aufsatz hatte sich in einem weit gespannten gedanklichen Bogen um eine historische Einordnung einer "Schlüsselquelle" zur Spätantike und des Mittelalters, nämlich der "Bekenntnisse" des Römers und "Kirchenvaters" Aurelius Augustinus bemüht. Ausgrabungsstätten wie Pompeji und Herculaneum würden, so wurde an einer Stelle ausgeführt, Anschauungsmaterial liefern dafür, wie "überhitzt" und "überreizt" die ganze spätrömische Gesellschaft gewesen sein muß. Darauf folgten dann folgende Worte (1, S. 633):
... Und an dieser Stelle müssen einige grundsätzliche Überlegungen über das Wesen und die Entstehungsgründe von "Kultur" erfolgen. In einer solchen, soeben charakterisierten Atmosphäre wird es für einen gebildeten Menschen zunehmend unmöglich, geistig, künstlerisch, kreativ tätig zu sein. Kulturelle Produktionen aller Art bedürfen eines Mindestmaßes an moralisch-substantieller Grundlage in der Gesellschaft.

Der kulturschaffende Mensch ragt schon - ganz allein von seiner Natur her - über die "gewöhnlichen" Menschen hinaus, so daß er mehr als andere gefährdet ist (absturzgefährdet). Er ist empfindsamer. Alle Reize wirken auf ihn stärker, nicht schwächer, als auf den Durchschnitts-Menschen.

Wenn nun die moralischen Grundlagen der Gesellschaft "unter" ihm auch noch wegbrechen, wenn ihm noch nicht einmal mehr ein gewisses erforderliches Mindestmaß an Freundschaft und Liebe seiner Mitmenschen gewährt wird, die ihn moralisch aufrecht erhalten, ihn zu begeisternden Taten befähigen können, dann bricht auch er - ganz selbstverständlich - innerseelisch, moralisch zusammen. Und dann ist der Bestand der Gesellschaft mehr gefährdet als jemals zuvor.
Hierbei war in einer Anmerkung nur ganz allgemein auf Mathilde Ludendorffs Buch "Das Gottlied der Völker - Eine Philosophie der Kulturen" (5) verwiesen worden. Es wurde fortgesetzt:
Denn ein Kulturvolk, das in seiner Vergangenheit große kulturelle Leistungen hervorgebracht hat, muß untergehen, wenn es nicht mehr bereit, fähig und willens ist, auch künftig entsprechende kulturelle Leistungen hervorzubringen. Und für ein Kulturvolk heißt "kulturelle Leistungen hervorbringen" schlichtweg eigentlich nur, seine eigene Kultur auch zu leben. ...
Diese Ausführungen sind damals von einigen Lesern als im Widerspruch stehend zur Philosophie Mathilde Ludendorffs empfunden worden.

Einwände gegen die Behauptung einer kulturellen Gesetzmäßigkeit

Schon von der Schriftleitung war noch vor Erscheinen dazu (am 4. April 2000) geschrieben worden:
Dank für den vorzüglichen Beitrag über Augustinus und seine Zeit. Er gefällt mir ganz hervorragend. (...) Mit einer Stelle habe ich ein philosophisches Problem, was aber nicht heißt, daß ich eine Änderung durchsetzen will. Ich möchte die Gedanken nur anheim stellen. Auf S. 10 setzt sich der Verfasser mit den Voraussetzungen von Kulturschaffen und der Stellung des kulturschaffenden Menschen auseinander. Der Kulturschöpfer ist eben gerade nicht von seiner Umwelt abhängig, weil er sein Schaffen aus dem Transzendenten gestaltet, das er frei (also spontan und ursachlos) in seinem Ich erlebt. In diesem Erleben ist er von den Bedigungen der Umwelt völlig unabhängig (was nicht heißt, daß er sie nicht reflektiert). So schlecht die Umwelt auch sein mag: solange ihm Staat und Gesellschaft das Sittengesetz gegen seine Person gewährleisten, ist er zu kulturellem Schaffen fähig - selbst wenn niemand außer ihm hiervon Notiz nimmt. Zum Kulturwerk wird es aus sich selbst heraus und nicht, weil es Widerhall findet.

Sicher ist der Kulturschöpfer absturzgefährdet. Aber genauso wie ihn die Empfindsamkeit hinabziehen kann, kann diese Empfindsamkeit ihn auf seinem Weg zur seelischen Vervollkommnung weiter hinaufziehen. (...) Allein wenn die äußere Bedrängnis so groß ist, daß ihm ein Leben in Gotteinklang durch Gewalt nicht mehr möglich gemacht wird, wählt er den Tod.

Das alles ist eine Frage der Erhabenheit (nicht Gleichgültigkeit), die mit dem Grade der seelischen Vervollkommnung wächst und das Gegengewicht zu der höheren Empfindsamkeit des Kulturschaffenden bietet.

Man muß also die zwei Seiten einer Situation betrachten. Die Ursache für den beschriebenen Zusammenbruch ist also nicht im Einfluß der entsittlichten Umwelt auf den Kulturschaffenden zu suchen. ... Eher in einer Art "Glaubensumbruch" auch im Alten Rom? Ich weiß es auf Anhieb nicht.
- Wäre es nicht eigentlich sehr sonderbar, wenn die Umwelt gar keinen Einfluß auf das Schaffen von Kulturwerken durch Kulturschaffende hätte? Wäre es nicht merkwürdig, wenn sie gar keine Verantwortung tragen würde dafür, daß in ihr Kulturwerke entstehen oder nicht, daß in ihr Kulturschaffende tätig werden können oder nicht? Und wie?

Im Druck wurde das obige Zitat dann jedenfalls vom Schriftleiter doch noch dahingehend entschärft, daß es um die Worte "ganz selbstverständlich" gekürzt wurde. Damit war eine geradezu gesetzmäßige, innere "Zwangsläufigkeit" des unterstellten innerseelischen, moralischen Zusammenbruchs des "Kulturschöpfers" in einem moralisch degenerierten, zersetzten, untergehenden Kulturvolk - wie des römischen in der Spätantike - nicht mehr in der Deutlichkeit hervorgehoben. Aber wie auch sonst sollte man den Wechsel von der Fülle kulturellen Schaffens in der Antike zu einer Seltenheit desselben während des Mittelalters erklären können? Hier scheint doch eine gewisse kulturgeschichtliche Gesetzmäßigkeit vorzuliegen. Freilich nicht eine, die die Willensfreiheit auch des Kulturschöpfers an sich infrage stellt. Jedoch eine, die die Wahrscheinlichkeit kulturellen Schaffens sehr deutlich verändern kann.

"Ganz selbstverständlich" bedeutet hier: Dieser seelische Wandel ist - auch bei Kulturschaffenden - in einem solchen Zeitraum die Regel, nicht die Ausnahme. Damit ist nicht gesagt, daß seltene Ausnahmeerscheinungen nicht dennoch andere Entscheidungen über ihre Seele treffen. Aber diese sind dann eben nicht mehr selbstverständlich.

Eine Leserzuschrift formulierte dann auch noch zu der entschärften Version einen ähnlichen Einwand wie ihn schon der Schriftleiter formuliert hatte (2). Diese Leserzuschrift hatte mehrere verschiedene Themen des Aufsatzes angesprochen. Die anderen Themen waren in nachfolgenden Aufsätzen schon beantwortet worden (3, 4). Nur bezüglich des darin ebenfalls kritisierten, hier angeführten Zitates war bislang keine ausdrückliche Antwort erfolgt.

1935 - "Die Kraft zum Schaffen unsterblicher Werke sollte umweltbedingt sein?"
 
Und tatsächlich betont Mathilde Ludendorff die Unabhängigkeit der Schöfperkraft zu kulturellen Werken von Umwelt und Schicksals ganz außergewohnlich scharf. Sie widmet derselben in ihrem Buch "Das Gottlied der Völker" (zuerst erschienen 1935) ein ganzes Kapitel, benannt "Die Schöpferkraft erhaben über Umwelt und Schicksal". Es scheint zunächst jener behaupteten "Wahrscheinlichkeit" oder gar "Zwangsläufigkeit" kraß zu widersprechen. Und so konnte die Leserbrief-Schreiberin auch folgendes Zitat aus diesem Kapitel anführen:
Das Werk "Selbstschöpfung" brachte den Beweis, der schon in dem Werke "Des Menschen Seele" durch die Beschreibung der Seele als Wille und Bewußtheit begonnen war. Wir sahen, so unmöglich das uns zunächst schien, die unvollkommene Seele so beschaffen, daß sie unbekümmert ... um persönliche, eingeborene Eigenart, die ungeschmälerte Freiheit besitzt, sich in ihrem Leben zu Gott hin oder von ihm weg zu wandeln oder jedwede Selbstschöpfung durch eigene, ursachlose Tat in sich zu vollziehen. Mit dem bewußten Erleben des Göttlichen hätte sich auch keine andere Beschaffenheit der Seele des Menschen je einen lassen. Ja, wir sahen, daß das Meer von gottfernem Unheil, welches über der Menschengeschlechter Schicksal flutet, weil sie unvollkommen geboren wurden und werden mußten, unvermeidbar war. Denn nur die Erhaltung der Freiheit zur eigenen ursachlosen Tat, die Seele für oder wider Gott zu wandeln oder umzuschaffen, hat es ermöglicht, das Gottesbewußtsein auf Erden werden zu lassen.

Und nun sollte Kultur, die doch das Ziel der Schöpfung vollendet, die das bewußte Gotterleben der Zukunft bereichert, nicht diese Voraussetzung: unbedingte, fessellose Freiheit, zeigen, sollte Hörigkeit von Umwelt und Schicksal aufweisen? Kraft zum Schaffen unsterblicher Werke sollte aus der Umwelt zuströmen, von ihr mitbestimmt sein? Das Schicksal, das Naturgesetze und unvollkommene Menschen bereiten, oder gar ihre Antwort auf Leistung sollten die heilige Schaffenskraft, die spontan wie Gott selbst ist, stärken oder mindern können? Tief fürwahr stünde der Schöpfer in der Kultur dann unter dem Menschen, der keine Werke schenkt, aber sich selbst aus innerer Freiheit ursachlos umschafft! Wie aber könnte er dann über die Erfüllung des Sinns unseres Seins hinaus noch eines so hehren Amtes walten, Mitvollender des Schöpfungszieles zu sein? Unvereinbar ist jede geringste Hörigkeit von Umwelt und Schicksal den göttlichen Kräften zum Schaffen. Den Notwendigkeiten, die die Naturgesetze fordern, ist der Kulturschöpfer unterworfen, und weil er dies ist, kann er auch allgemein gültige Seelengesetze in sich nicht ändern. So sahen wir ihn den Seelenschädigungen der Suggestion ebenso ausgesetzt wie jeden anderen Menschen. Doch darüber hinaus ist er frei, wie sollte er auch, wenn seine Schaffenskraft abhängig wäre von Umwelt und Schicksal, jemals die Bedingnis erfüllen können, die wir schon klar erkannten: ursachlos seine Werke schaffen?
Das sind sehr deutliche und klare Ausführungen.

Doch wie können diese Ausführungen nun ein Einklang gebracht werden mit vielen Ausführungen des nachfolgenden Kapitels in demselben Buch "Das Gottlied der Völker"? Dieses nachfolgende Kapitel trägt die Überschrift "Das Werk wirkt Wandel im Schaffenden". Damit ist gemeint, das "Erstlingswerk" und alle nachfolgenden Werke eines Kulturschöpfers wirken noch weitaus stärker als die sonstige Umwelt auf diesen zurück. Je nachdem, ob und wie er sich ihrem Gehalt entsprechend bewährt oder nicht, würde sichsein Seelenschicksal gestalten. Aber diese Bewährung erfolgt natürlich jeweils in jener Umwelt, in der dieser Kulturschöpfer lebt. Die Inhalte dieses Kapitels können hier nicht vollständig zitiert werden. Es kann aber der vorletzte Absatz desselben zitiert werden, in dem die Inhalte desselben noch einmal zugespitzt anklingen (5, S. 94):
Erhaben zugleich und erschütternd ernst ist das Schicksal der Schaffenden an der Kultur schon in gottwachen Völkern, in denen diese frei sich entfaltet und heilig erachtet wird. Wie ernst muß das Los der Schaffenden sich gestalten in entarteten Völkern, die sinnlose Wirrnis über ihr Leben stellen, die Verkommenen und den plappernden Toten das Hüteramt der Kultur vertrauen, die Schaffenden in erhöhte Gefahren locken und allem Verbreiten der Kunst so gottferne Sitten geben. Dann sind jene, die ihren Werken die Treue halten und jene, die ihnen das Werden nicht weigern, unter allen denen, die in ihrem so hoffnungfroh begonnenen Leben irgendwann wankten und stürzten, Seltene unter den Seltenen!
"Seltene unter den Seltenen". Wie also sollte Mathilde Ludendorff nicht die Bedeutung des Schicksals und der Umwelt in Rechnung stellen für das Schaffen von Kulturwerken? Auch dies sind klare Ausführungen. Kulturelles Schaffen ist also in kulturferner Zeit in noch viel höherem Maße gefährdet als in kulturnahen Zeiten.

Dabei ist von Mathilde Ludendorff noch nicht erörtert, unter welchen Bedingungen es überhaupt zu einem "Erstlingswerk" kommen kann, das dann so starken Wandel bewirken kann in der Seele des Künstlers. Auch dafür, daß es zu einem solchen überhaupt kommen kann, müssen ja zunächst sehr spezielle Bedingungen vorliegen. (Musiker müssen eine frühe musikalische Ausbildung erhalten haben und vieles ähnliche mehr.)

1917/1936 - "Die naive Vorstellung, daß das Genie gar nicht umzubringen sei"

Das Werk "Das Gottlied der Völker" ist also auf solche und andere Zusammenhänge zunächst noch sehr genau zu studieren, bevor man hier zu einigermaßen abschließenden Urteilen wird kommen können. Aber Mathilde Ludendorff hat auch in anderen Zusammenhängen, etwa wenn es darum ging zu fragen, warum sich so wenige weibliche "Genies" in den letzten tausend Jahren "durchgerungen" hatten zu künstlerischem Schaffen, zu solchen Fragen geäußert. So schon in ihrem Buch "Das Weib und seine Bestimmung" (7), das erstmals 1917 erschien.

Es hat weitere Auflagen erlebt in den Jahren 1919, 1927, 1933, 1936 und 1976. Dabei ist es seit 1927 unverändert erschienen, wie ein Vergleich der Ausgaben (zumindest des zu bringenden Zitates) ergibt. Die Ausgaben von 1933, 1936 und 1976 bringen als jüngstes Vorwort immer nur das zur dritten Auflage von 1927. Auch 1936 also - noch zu Lebzeiten Mathilde Ludendorffs und nach der Veröffentlichung ihres Buches "Das Gottlied der Völker" - ist der Text dieses Buches unverändert erschienen. In den gleichen Jahren hat sie andere, früh entstandene Bücher (etwa "Triumph" oder "Der Minne Genesung") noch einmal bedeutend umgearbeitet, um sie an einen später gewonnenen Erkenntnisstand anzupassen. Man kann also dem Text eines schon früh entstandenen, aber auch 1936 nicht umgearbeiteten oder geänderten Buches entnehmen, wie Mathilde Ludendorff ihre Worte auch in "Das Gottlied der Völker" hatte verstanden wissen wollen und wie nicht.

Abb. 2: Ausgabe von 1990
Der Autor dieser Zeilen ist auf diese Worte erst vor kurzem gestoßen. Wobei ihm wieder der eingangs genannte Aufsatz und die hier erörterte Thematik in den Sinn kamen. Er war auf sie gestoßen über eine kleine Schrift mit dem Titel "Frau und Musik". Diese ist im Jahr 1980 aus der Frauenbewegung hervorgegangen und hat seither mehrere Auflagen erlebt (6). Dieses Büchlein enthält nämlich überraschenderweise auch einen Text Mathilde Ludendorffs, entnommen jenem Werk "Das Weib und seine Bestimmung". Und zwar in der Auflage von 1927 (6, 7). Schon die Tatsache, daß man in einem Büchlein, das im Jahr 1980 - laut Umschlagtext - in der Zeitschrift "Emma" positiv besprochen worden ist, einen sehr ausführlichen Text von Mathilde Ludendorff finden kann, stellte zunächst einmal eine Überraschung für sich dar. Er macht auf die Aktualität der hier behandelten Thematik auch in anderen Diskussionszusammenhängen aufmerksam.

Denn um wieviel mehr erhöhte sich die Überraschung, wenn man genau in dem hier abgedruckten Text eine Antwort fand auf die oben angeführten Einwände des Schriftleiters und der Leserbrief-Schreiberin im Jahr 2000. Eine Antwort, die mit Prägnanz, Schärfe und Dichte dann eben, wie gesagt, auch ein weiteres Kapitel des Buches "Das Gottlied der Völker" erläutert.

In beiden Büchern geht es um die Bedingungen kulturellen Schaffens. Allerdings sind die Zielrichtungen beider Bücher unterschiedlich. In dem ersten ("Das Weib ...") geht es Mathilde Ludendorff darum aufzuzeigen, warum es in den letzten tausend Jahren so wenige Frauen als Kulturschöpferinnen gegeben hat, und daß dies nicht an einer allgemeinen erblichen "Minderbegabung" der Frauen für kulturelles Schaffen liegen könne. Aber woran kann es dann liegen? Man kann verstehen, daß die geradezu "goldenen Worte" Mathilde Ludendorffs zu diesem Thema noch im Jahr 1980 und 1990 unter Musikwissenschaftlerinnen der Beachtung für wert empfunden worden sind. Im unverändert beibehaltenen Text sowohl der Ausgabe von 1919 wie von 1927 heißt es nämlich (1919, S. 72 - 74; 1927, S. 75 - 77; 1933, S. 73f; 1936, S. 72 - 74):
Dabei muß uns vor allen Dingen die Frage beschäftigen, ob es denn überhaupt Lebensverhältnisse und Anschauungen gibt, die künstlerische Produktionen erfolgreich unterdrücken können. Eine sehr alte Lebensweisheit "das Genie ringt sich durch" scheint diese Frage mühelos und befriedigend zu beantworten. Aber überall da, wo ein fertiges Sprüchlein in unserem Gedächtnis bereit liegt und wie ein Teufelchen aus dem Kasten springt, wenn das bezügliche Thema gestreift wird, können wir gar nicht skeptisch genug sein, denn dann handelt es sich meist um angelernte Vorurteile, die unserer Erkenntnis hinderlich sind. Wie ist wohl die Vorstellung entstanden, daß das Genie sich stets durchringt? Zweifellos richtig ist das Bild des Kampfes als typisch für das Genie. Der außergewöhnliche Mensch stellt nicht nur eine quantitative Steigerung der Durchschnittsbegabten dar, sondern er unterscheidet sich qualitativ unter anderem auch dadurch, daß er sich von der Masse nicht in bestimmte Formen einzwängen lassen will, sondern sich seinen Weg erkämpft. Das Sprüchlein besagt ferner, daß das Genie stets Sieger in diesem Kampfe ist und bleibt den Beweis hierfür schuldig. Im Kampf messen sich zwei Kräfte, und da die feindliche Kraft, die sich dem Genie entgegenstellt, die denkbar stärkste sein kann, kann der Sieg des Genies nicht in jedem Falle gesichert sein. Was zu dem Irrtum führte, war die richtige Beobachtung unterschiedlicher Existenzbedingungen des Genialen und des Durchschnittsmenschen. Die Lebensgeschichte des Genies, reich an Kämpfen, arm an satter Zufriedenheit, würde den Durchschnittsmenschen unglücklich machen. Er sieht, daß das Genie sich im Gegenteil dabei glücklich entfaltet und kommt zu der naiven Vorstellung, daß es überhaupt nicht umzubringen ist. Er kommt zu der merkwürdigen Weisheit, daß die Mimose überall gedeihe, also zäher sei, als das Gänseblümchen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Niemand ist so zähe wie der Durchschnittsmensch, niemand ist verletzlicher als der geniale Mensch. Er braucht seine ganz besondere Kost, eine Mischung aus Kampf und Friede, von Freud und Leid, von Anerkennung und Verkennung; eine Mischung, die bei jedem Einzelnen wieder anders beschaffen sein muß. Das, was ihm die glücklichste Entfaltung gewährt, können wir also nicht im Einzelfall anordnen. Aber um so genauer können wir angeben, was jedem Genie Gift ist, nämlich alles das, was für den Durchschnittsmenschen höchstes Glück bedeutet: kleine Freuden, nach alten Vorurteilen und Gewohnheiten behaglich heruntergelebt. Die Schattenseiten eines derartigen Lebens: die Abhängigkeit von minderwertigen Menschen, täglicher Kleinkram der Sorgen, die für den Durchschnittsmenschen höchstens bedrückend sind, können geniale Schaffenskraft auf die Dauer töten. (...)
Wenn nicht nur eine kleine Gruppe, sondern alle Frauen im Alter von 18 Jahren selbständig ins Leben treten, und in dem Auf und Nieder, dem Kampf und Genuß des Lebens die Welt und das eigene Ich erkennen lernen, dann erst kann vielleicht aus manchem begabten Töchterchen eine schaffende Künstlerin werden.
Mathilde Ludendorff ist also in diesem Zitat durchaus der Meinung, daß
es Lebensverhältnisse und Anschauungen gibt, die künstlerische Produktionen erfolgreich unterdrücken können.
Interessanterweise hatte noch eine Rezensentin der Schrift von Eva Rieger und zugleich Ludendorff-Anhängerin Schwierigkeiten, diese These gelten zu lassen, schreibt sie doch (10):
Nun könnte man freilich gerade die in der "heilen Welt" eines evangelischen Pfarrhauses aufgewachsene Mathilde Ludendorff ebensogut als Beweis dafür anführen, daß sich das Genie eben doch durchringt.
Daß ein Einzelfall in solchen Fragen überhaupt kein Beweis ist, und ob es dieser es für sich überhaupt wäre, selbst wenn, muß hier gar nicht erörtert werden. Dieser Satz zeigt aber recht schön auf, daß Ludendorff-Anhänger sich tatsächlich schwer tun damit, diesen Gedanken der Philosophin nachzuvollziehen. - Im übrigen befand sich die Erforschung des Zusammenhanges zwischen Begabungen auf kulturellem Gebiet und der angeborenen Intelligenz eines Menschen zur Zeit der Niederschrift dieser Worte noch mitten in den Anfangsstadien. Wie überhaupt die Intelligenzunterschiede zwischen den Menschen und Völkern, die nach heutigem Kenntnisstand sehr eng mit dem Berufserfolg des einzelnen und mit dem Bruttosozialprodukt ganzer Länder zusammenhängen, von der Wissenschaft im allgemeinen damals noch nicht als grundlegend erkannt worden waren. Deshalb sind manche der Ausführungen und Begründungen Mathilde Ludendorffs heute überholt und veraltet, bzw. wären noch einmal genauer mit dem heutigen Wissensstand abzugleichen. So scheinen zum Beispiel Höchstbegabungen in der angeborenen Intelligenz nach heutigem Stand bei Männern etwas häufiger vorhanden zu sein als bei Frauen. Ansonsten aber dürfte die erbliche Intelligenzbegabung der Frauen kulturelles Schaffen ebenso ermöglichen wie die der Männer - wenn es eben nur auf diese ganz ähnlich verteilte angeborene Begabung ankäme. In der Weltgeschichte seit Entstehung der Schriftkultur hat es aber weltweit bislang keine Kultur gegeben, in der das weibliche Schaffen von Kulturwerken etwa fünf Prozent der Gesamtproduktion einer jeweiligen Kultur überschritten hätte (8). Ein Umstand, der ebenfalls zu denken gibt, zumal derselbe - um nur ein Beispiel zu nennen - sich nicht nur in Hochkulturen im indogermanischen Sprachraum vorfindet.

In jedem Fall erläutern die 1916 niedergelegten und bis 1936 beibehaltenen Ausführungen Mathilde Ludendorffs in "Das Weib und seine Bestimmung" noch einmal in andere Form ihre in dem Buch "Das Gottlied der Völker" von 1935 niedergelegten Gedanken.

Es geht in dem letzterem Buch darum, die von Mathilde Ludendorff philosophisch postulierte und begründete Freiheit der Wahl des Menschen für oder wider Gott in Parallele zu setzen zu der von ihr ebenfalls philosophisch postulierten Freiheit der Wahl des kulturell Begabten, Kulturwerke zu schaffen oder nicht. Es geht darum, daß die Umwelteinflüsse darüber nicht das letzte Wort haben können und dürfen, wenn nicht der von Mathilde Ludendorff philosophisch gedeutete Sinn der Schöpfung infrage stehen soll.

Abb. 3: Ausgabe von 1988
In Bezug auf die Willensfreiheit wie auch in Bezug auf die Umwelt- und Schicksalunabhängigkeit des kulturellen Schaffens argumentiert Mathilde Ludendorff mit "Wahrscheinlichkeiten". Bestimmte Umwelteinflüsse und Einflüsse des Erbgutes erhöhen oder vermindern die Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten innerseelischen Wandel. Allerdings wäre nach ihrer Philosophie die vollständige (bzw. allein instinktmäßig vorgegebene) Zwangsläufigkeit eines seelischen Wandels mit dem Göttlichen nicht vereinbar. (Sie wären auch nur durch allerschwerste Verbrechen an der Kinderseele im negativen Sinne von Seiten der Umwelt zu erreichen [siehe dazu "Des Kindes Seele und der Eltern Amt"].).

Und in diesem Sinne sind auch ihre Worte zum künstlerischen Schaffen zu lesen. In letzter Instanz ist das künstlerische Schaffen, die Schaffenskraft - so sie überhaupt erst einmal vorhanden ist (als erbliche Anlage) - unabhängig von Umwelt und Lebensschicksal. So wie das auch ganz allgemein nach ihrer Philosophie für die Freiheit des Willens gilt. Das hervorzuheben, darauf kommt es ihr als Philosophin besonders an. Dabei übersieht sie sowohl als Philosophin wie als Frauenrechtlerin nicht die ganze Bandbreite des tatsächlich auch Verwirklichten.

2012 - Wie denken wir heute über kulturelles Schaffen? 

Und deshalb sieht ja Mathilde Ludendorff auch in der mangelnden kulturellen und politischen Betätigung der Frau gemäß ihrer eigenen Wesensart (also nicht in einer vermännlichten Betätigung derselben) einen der Hauptgründe für den Untergang von Kulturvölkern. Und in der Betätigung der Frau als Kulturschöpferin (beispielsweise in ihrem eigenen philosophischen Schaffen) sieht sie ja eine der wesentlichsten Voraussetzungen für das Überleben von Kulturvölkern. Wie also kann ihr diese Frage unbedeutend sein! Und deshalb mißt sie auch einem - womöglich kulturgesetzlich nachweisbaren - 5%-Anteil der Frauen am gesamtkulturellen Schaffen die allerhöchste Bedeutung zu.

Und entsprechend könnte ergänzend auf die Tatsache hingewiesen werden, daß der oben erwähnte griechische Philosoph Aurelius Augustinus fast dem gleichen Geburtsjahrgang angehörte, wie die letzte heidnisch-griechische Philosophin Hypatia von Alexandria. Und daß sich beider Lebensschicksal besonders dadurch unterscheidet, daß ein männlicher Heide Christ wird und ein gesegnetes Alter von 75 Jahren erreicht (Aurelius). Und daß eine weibliche Heidin Heidin bleibt und vom christlichen Mob ihrer Universitätsstadt etwa in ihrem 60. Lebensjahr zu Tode geschleift wird (Hypathia). Womöglich hätte ein Arzt, zuständig für das Leben und den Tod von Kulturen, auf die Sterbeurkunde der hellenistisch-römischen Kultur des Mittelmeerraumes als Sterbedatum das Todesjahr dieser letzten heidnischen Philosophin eintragen können. 415 "nach Christus" wurde das weibliche kulturelle Schaffen an sich getötet - im Namen Jesu Christi. Und damit eine Kultur insgesamt, die der Stellung der Frau in der Gesellschaft, in der Religion und Kultur eine ganz andere Bedeutung zugewiesen hatte, und ihr wesentlich mehr zugetraut hatte, als der nachfolgenden christlichen Gesellschaft und Kultur.

Und daran würde sich die Frage anschließen, wie weit wir eigentlich heute davon entfernt sind, daß die letzte bedeutende Vertreterin des abendländischen Geisteslebens von einem christlichen (oder islamischen?) Mob zu Tode geschleift wird. Womöglich - dem 21. Jahrhundert angemessen - vor laufender Kamera. - ?

Die philosophisch zu fordernde Möglichkeit zum kulturellen Schaffen von Frauen war auch noch nach der Antike immer gegeben. Was natürlich auch als wichtiger Beleg für die Richtigkeit der oben angeführten philosophischen Aussage Mathilde Ludendorffs heranzuziehen ist. Nur wurde diese Möglichkeit eben außerordentlich selten verwirklicht.

Und was Mathilde Ludendorff in "Das Weib und seine Bestimmung" nur für die auf kulturellem Gebiet begabten Frauen sagt bezüglich der "tausend Jahren Unheilszeit" unter der Herrschaft des Christentums, ist in ihrem Buch "Das Gottlied der Völker" und in dem eingangs erwähnten Aufsatz (1) auch von den Männern behauptet worden. Eine heidnisch-philosophische Geistigkeit ist seit den Zeiten des Aurelius Augustinus auch den Männern zunehmend unmöglich gewesen. Es sei denn, sie kleidete sich - wie bei Aurelius Augustinus - zumindest äußerlich ins christliche Mönchs-, Demuts- und Büßergewand und in die entsprechende tiefstehende Kleingeistigkeit, Engherzigkeit und Düsterkeit. Und es sei denn, sie bewegte sich von da ab auf einem ganz anderen Niveau und auf einer ganz anderen gesellschaftlichen Grundlage und in einer viel geringeren gesellschaftlichen Dichte, Lebendigkeit und Anteilnahme als in den vielen Jahrhunderten zuvor.

Denn zuvor konnte ja fast jede griechische Kleinstadt für sich in Anspruch nehmen, die Heimat eines bedeutenden Philosophen, eines bedeutenden Bildhauers oder eines bedeutenden Malers gewesen zu sein. Oder einer Priesterin Diotima, der gegenüber auch Philosophen vom Range eines Sokrates und eines Platon gerne bereit waren, ihr in philosophischen Kernfragen - etwa über die Liebe - das letzte Wort zu lassen.


(Zuerst erschienen: 25.8.2012; letzte Überarbeitung: 25.12.2012)
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  1. Meinecke, Erich: Wurzelt unsere Zeit in der vormittelalterlichen Welt? Eine Betrachtung und Besinnung. In: Mensch & Maß, Folge 14, 23.7.2000, S. 625 - 638; auch auf: Lulu.com, Sept. 2011
  2. Weiß, Anne: Leserbrief zu "Wurzelt unsere Zeit in der vormittelalterlichen Welt?" Erich und Mathilde Ludendorff über die Arbeitsethik der heidnisch-germanischen Vorfahren. In: Mensch & Maß, Folge 16, 23.8.2000, S. 766 - 768
  3. Rösner, Heinrich: Bismarcks engste Freunde. In: Mensch & Maß, Folge 6, 23. 3. 2001, S. 241 - 254
  4. Meinecke, Erich: "Mühsame Arbeit widerspricht der deutschen Volksseele". In: Mensch & Maß, Folge 23, 9.12.2001, S. 1057 - 1068 
  5. Ludendorff, Mathilde: Das Gottlied der Völker. Eine Philosophie der Kulturen. Ludendorffs Verlag, München 1935, 1936, 1938
  6. Ludendorff, Mathilde: Künstlerische Begabung (1927). In: Rieger, Eva (Hg.): Frau und Musik. Mit Texten von ... Mathilde Ludendorff, Alma Mahler Werfel, Clara Schuhmann, Cosima Wagner uvam. Fischer Taschenbuch-Verlag 1980, 1988 (253 S.) (Google Bücher); Furore Verlag, Kassel 1986, 1990 (2. Aufl.) (Google Bücher)
  7. Ludendorff, Mathilde (von Kemnitz): Das Weib und seine Bestimmung. Ein Beitrag zur Psychologie der Frau und zur Neuorientierung ihrer Pflichten. Verlag Reinhardt, München 1917 (191 S.); 2. vermehrte Auflage, Reinhardt Verlag, München 1919 (208 S.) (Google Bücher); 3. vermehrte Aufl., Verlag von Theodor Weicher, Leipzig 1927 (192 S.); Ludendorffs Volkswarte Verlag, München 1933 (11.-13. Tsd., 190 S.), Ludendorffs Verlag, München 1936 (3. Aufl., 14.-16. Tsd.); Nachdruck, Verlag Hohe Warte, Pähl 1976
  8. Murray, Charles: Human Accomplishment. The Pursuit of Excellence in the Arts and Sciences, 800 BC to 1950. Harper Perennial 2003
  9. Ludendorff, Mathilde: Künstlerisches Schaffen und Wahnlehren. Ludendorffs Verlag, München 1941 (45 S.)  [= Laufender Schriftenbezug 12, Heft 4] (Scribd
  10. Knuth, Elsbeth: Frau und Musik (Besprechung der gleichnamigen Schrift von Eva Rieger). In: Mensch & Maß, Folge 4, 23.2.1983, S. 175 - 180

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